Endzeit
seine Schwester im Namen der Familienehre zu ermorden, hat einen blau-weiß gestreiften Heißluftballon aus Pappmaché gebastelt, der wie eine riesige Glühbirne über uns an der Decke hängt. Es ist ein unternehmungslustiger, ehrgeiziger, hoffnungsvoller und fröhlicher Ballon, ein Ballon, der geistig gesünder ist als der Junge, der ihn gemacht hat. Es ist tröstlich und faszinierend, was Kunst vermag. Betrachtet man ein konserviertes Gehirn, sieht man nur eine kittgraue Masse, klumpig und nackt wie ein ungeschütztes Weichtier. Drinnen aber ist Raum für tausend Welten, von denen keine auch nur entfernt zu einer anderen passen muss.
»Vielleicht wäre es an der Zeit, dass du hier auch etwas machst«, schlage ich vor. »Sollen wir uns das mal vornehmen?«
Es ist, als hätte ich überhaupt nicht gesprochen. Ich dehne das Schweigen ein wenig aus, begreife dann aber, dass auch sie ein Wartespielchen spielt. Ihr starrer Gesichtsausdruck, Verachtung als Grundeinstellung, verrät, dass ihr Verstand sich an einem für sie sicheren Ort befindet.
Ich fange Rafiks Blick auf und lese darin Mitgefühl, vielleicht sogar Mitleid. Er ist beliebt. Würde er von einem psychotischen Patienten getötet, würde man ihn in den Nachrichten als »un geschliffenen Diamanten« oder vielleicht auch »liebevollen Familienvater« |25| bezeichnen. Ich frage mich, wie viele Sitzungen mit Bethany Krall er schon durchgestanden hat.
»Bethany? Irgendeine Idee?«, frage ich schließlich.
Mit einer plötzlichen Bewegung hockt sie sich auf den Tisch in der Mitte und stößt einen theatralischen Seufzer aus.
»Erst bekomme ich meine EKT. Dann die tragische Joy. Und nun Sie. Ich könnte glatt auf die Idee kommen, dass man mich in Oxsmith wie eine verdammte Prinzessin behandelt. Nur noch ein Stern, Missis.« Sie dreht sich zum eingebauten Wandspiegel um und inspiziert ihre Zähne, die noch immer in derselben silbernen Klammer stecken wie auf dem Familienfoto. »Hey, siehst du da irgendwas Interessantes, Onkel Rafik?«, fragt sie, als sie seinen Blick bemerkt. »Lust auf einen Blowjob mit Nervenkitzel?«
Er wendet sich ab, worauf sie triumphierend gackert.
»Wenn dir nicht nach Kunst ist, können wir uns auch einfach zusammen Filme ansehen«, bohre ich weiter.
»Pornos? Für ein Ja gibt’s einen Extrastern.«
»Klar doch«, sage ich und konstatiere, wie rasch wir beim Sex gelandet sind. »Für einen Stern auf der Bethany-Krall-Kompetenzskala würde ich alles tun. Vorausgesetzt, die haben hier Pornos auf DVD. Ich habe noch nicht nachgesehen. Wie fühlst du dich, wenn du dir Hardcore-Sex ansiehst?«
Sie lacht. »Sie brabbeln wieder. Ihr seid alle so verdammt berechenbar.«
Natürlich hat sie recht. Mag sein, dass Bethany die dreihundertste gestörte Minderjährige für mich ist, aber ich bin vermutlich auch Therapeutin Nummer dreißig für sie. Sie kennt die üblichen Tricks, die Strategien, mit denen wir den Patienten Dinge entlocken, die sorgfältig formulierten »offenen« Fragen und minutiösen Verlaufskontrollen, das Augenmerk auf Schlüsselwörter und -sätze, die Formeln, auf die ich seit meinem Unfall zunehmend verzichte. Bei einem Fall wie ihrem greifen die normalen Regeln nicht. Wenn wir so weitermachen, verlassen wir bald den festen Boden der Lehrbuch-Therapie. Was habe ich |26| schon zu verlieren? Für den Moment halte ich mich aber an die ausgetretenen Pfade.
»Die Kunstgruppe trifft sich dreimal in der Woche. Manche Leute arbeiten lieber allein. Das könnte ich mir bei dir vorstellen. Ich habe Aquarellfarben, Acryl, Tusche, Ton, aber du kannst auch Computergrafiken erstellen oder fotografieren. Die einzige Regel ist, keine selbst gemachten Tattoos.«
»Und wenn ich nichts von diesem Scheiß machen will? Und auch keine Schlangen auf meine Titten stempeln?«
»Was du in den Sitzungen tust, liegt ganz bei dir. Wir können auch einfach reden. Oder spazieren gehen.«
Ein gemeines Leuchten huscht über ihr Gesicht.
» Spazieren gehen?
Wie denn bitte?« Ihre Stimme ist durchsetzt von kunstvoll gezimmertem Zorn. Es muss sehr anstrengend sein, diesen Zorn ohne festes Ziel am Leben zu erhalten. Wie erschöpft sie sein muss.
»Im Park.« Nur wir beide und fünf Krankenpfleger mit rasierten Köpfen, die regelmäßig Bodybuilding machen.
Ein Lächeln kringelt ihre Mundwinkel. »Ja, Sie würden natürlich einen gewissen Schutz brauchen. Angesichts meiner gewalttätigen Vorgeschichte. Die Sie eben in meiner Akte gelesen haben. Ich
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