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Endzeit

Endzeit

Titel: Endzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Jensen
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|7| 1.   Teil
    |9| 1
    In jenem Sommer, in dem sich alle Regeln änderten, schien der Juni tausend Jahre lang. Die Temperaturen waren gnadenlos: achtunddreißig, neununddreißig, vierzig Grad im Schatten. In dieser Hitze musste man sterben, durchdrehen oder sich fortpflanzen. Alte Leute kollabierten, Hunde wurden in Autos bei lebendigem Leibe gegrillt, Liebende konnten nicht die Finger voneinander lassen. Der Himmel lastete schwer wie der Deckel eines Hochofens, ließ den Untergrund schrumpfen, Beton bersten und Büsche an den Wurzeln absterben. In den ausgedörrten Vororten dudelten die Eisverkäufer Kindermelodien in Straßen, die Teer schwitzten. Unten am Hafen reflektierte das Meer die Sonne in winzigen, barbarischen Spiegeln. Man war am Ersticken und sehnte sich nach Regen. Der nicht kam.
    Doch es kamen andere Dinge, scheinbar willkürlich. Darunter Bethany Krall, der mordende Teenager. Falls ich damals nicht gewusst habe, dass die Unruhe bestimmten Regeln gehorcht, so weiß ich es jetzt.
    Damals träumte ich fast jede Nacht so lebhaft, dass die Träume wie digital bearbeitet schienen. Manchmal konnte ich mehr als nur gehen und laufen und springen. Ich konnte radschlagen; ich konnte praktisch fliegen. Ich war eine Akrobatin, schleuderte meinen Körper durch die leere Luft und schwebte wie eine Figur von Chagall in der Stratosphäre.
    Dann wieder war ich mit Alex zusammen. Er warf lachend den Kopf zurück, als wäre nichts geschehen. Oder wir hatten hektischen Sex, ein wildes Gewirr aus Gliedmaßen. Oder wir gaben uns der anderen Beschäftigung hin, in der wir es so rasch zur |10| Meisterschaft gebracht hatten: Streiten. Voller Bosheit. Auch, als wäre nichts geschehen.
    Dann wachte ich auf. Ich lag da, mein Oberkörper schweißbedeckt, während der Versandhaus-Ventilator meine nackte Haut mit Luft beharkte, und ließ den neuen Tag stufenweise hereinsickern. Bevor ich aufstand, um mich zu waschen, anzuziehen und mit meinem Haar zu kämpfen, weil ich aussah wie nach einer Vergewaltigung unter Drogen, folgte die letzte Stufe: Ich zählte mir pflichtschuldig das, was ich hatte, auf. Es war nicht viel, was das volkstümliche kleine Ritual beträchtlich verkürzte.
    Als der Himmel schließlich seine Schleusen öffnete, nahmen die Unwetter biblische, größenwahnsinnige Ausmaße an, als führte ein zorniger Jehova von oben Regie. An den Küsten gaben Klippen nach und kippten Erde, Geröll und Schlamm auf die Strände, wo sie in trotzigen Haufen liegen blieben. Am Horizont explodierten kohlschwarze Wolken und türmten sich zu schwankenden Luftmetropolen. Jenseits der grauen, steinernen Bollwerke des Hafens elektrisierten Blitze das Wasser und beschworen Poltergeistwinde herauf, die willkürlich Dinge hochwirbelten und wieder hinunterschleuderten. Leidenschaftliche Böen zerrten an den Segeln der ankernden Boote und stürmten von dort ins Landesinnere, drückten ganze Maisfelder zu Boden, entwurzelten Bäume, zerschmetterten Hopfensilos und Scheunen, ließen zerrissene Müllsäcke in der Luft Pirouetten drehen, gespenstische Geister des Konsumwahns. Das unberechenbare Wetter war weltweit zur Norm geworden; das hatten wir inzwischen kapiert und waren schon genervt von seinem theatralischen Hang, Aufmerksamkeit zu fordern. Ursache und Wirkung. Gewöhne dich daran, dass A zu B führt. Gewöhne dich daran, in interessanten Zeiten zu leben. Lerne, dass nichts willkürlich geschieht. Achte auf den Punkt, an dem es kippt. Dreh dich um, vielleicht liegt er schon hinter dir.
    Psychische Umbruchsituation, eine Welt, die auf dem Kopf steht, Hinterfragen des Status quo, die ewige Nähe der Hölle – all diese Themen lagen mir sehr am Herzen. Laut einer Volksweisheit |11| ist es falsch, nach einer persönlichen Katastrophe große Veränderungen vorzunehmen. Man soll bei seinen Liebsten bleiben oder, falls man keine hat, bei jenen, die gerade verfügbar und willens sind, einem im Horror des neu konfigurierten Lebens die Hand zu halten. Warum also hatte ich nach meinem Unfall so hartnäckig das genaue Gegenteil getan? Damals war ich mir sicher gewesen, dass es richtig sei, London zu verlassen, schließlich hatte ich das Für und Wider kühl abgewogen. Doch meine Träume von den Chagall-Mädchen und die Ruhelosigkeit, die mich überkommen hatte, deuteten auf eine andere Möglichkeit hin: dass ich wieder einmal mein Leben versaut hatte, und zwar so gründlich und endgültig, wie es nur eine Psychologin kann. Mein Gehirn machte

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