Endzeit
habe sie auch gelesen. Und die Bilder gesehen. Ganz schön blutig. Mensch, ich müsste eigentlich Angst vor mir selbst haben.«
Ich warte einen Herzschlag lang. Aber sie ist es gewöhnt, keine Chance. »Hast du denn manchmal Angst vor dir selbst, Bethany? Nachdem du diese Bilder gesehen hast?«
Das geschändete Gesicht ihrer Mutter dringt wie ein brutaler Schrei in meinen Kopf.
»Sie müssen sich ganz schön nackt vorkommen in diesem Rollstuhl. Ich meine, jeder könnte Sie umkippen. Dann würden Sie wie ein Käfer auf dem Rücken liegen.« Sie verweilt einen Augenblick bei dem Bild. Mein Herz schlägt schneller, und ich blinzle. Schweiß prickelt in meinen Achselhöhlen. Sie hat einen wunden Punkt getroffen, und das weiß sie genau. »Die Sache mit dem |27| Spazierengehen interessiert mich wirklich. Wie soll das funktionieren? Ich sage es ja ungern, aber Sie sind unterkörpermäßig total hinüber, oder? Soll ich Sie etwa schieben?«
»Nicht nötig. Ich schiebe mich selbst. Man lernt eine Menge in der Spasti-Reha.« Damit entschärfe ich das Wort und entlocke ihr ein winziges Lächeln. Seit ich vor achtzehn Monaten den Rollstuhl bekommen habe, sind meine Hände zu Werkzeugen geworden, Zubehör aus Fleisch und Knochen, und die Haut an den Ballen ist trotz der Handschuhe schwielig. »Wie würdest du dich bei einer Sitzung an der frischen Luft fühlen?«
»Wie ich mich
fühlen
würde?«, wiederholt sie langsam, und ich bereue sofort meine Wortwahl. »Wie würdest du dich dabei
fühlen
, Bethany? Bethany,
welche Gefühle
spürst du in deinem Inneren? Weiter reicht’s nicht, oder? Schauen Sie sich nur an. Blablabla. Sie sind wirklich erbärmlich. Nicht zu fassen, dass man Sie hier arbeiten lässt. Werdet ihr denn vorher nicht überprüft? Sie sind bei null von zehn. Und das in Rekordzeit. Ich ernenne Sie zum Blabla-Champion von Oxsmith!«
Ich schaue nach draußen auf die langsam kreisenden Windräder.
Nein: Ich gehöre nicht hierher. Das hat Bethany Krall sehr schnell erkannt.
In der Reha bringen sie einem bei, wie wichtig ein gesunder Lebenswandel sei. Das Freibad von Hadport öffnet um sieben. Morgens gehe ich oft eine Stunde hin, hieve mich am flachen Ende hinein und ziehe zwanzig lauwarme Bahnen inmitten ertrunkener Insekten. Die Mitarbeiter kenne ich schon mit Namen: Goran, Chloe, Vishnu, gebräunt, gesund, mit funkelnden Augen. Sie grüßen, ich grüße zurück. Für sie bin ich die nette Dame, die sie bemitleiden und für ihren »Mut« bewundern – als hätte sie sich freiwillig dafür entschieden. Einmal hörte ich, wie sie das Pathos der netten, leidenden Dame heraufbeschworen, wie gut sie aussehe und wie alt sie wohl sein mochte. Sie gelangten zu |28| dem Schluss, dass die nette Dame »Ende zwanzig« sei, was einer 3 5-jährigen natürlich schmeichelt. Die nette Dame, die eigentlich keine Dame und schon gar nicht nett ist, schwamm weiter. Ihre Armmuskeln, schon gestrafft vom Rollstuhlschieben, haben sich zu wahren Prachtexemplaren entwickelt.
Willst du tauschen? ,
würde sie am liebsten fragen, wenn wohlmeinende Menschen ihr Komplimente und sie damit noch verrückter machen, als sie ohnehin schon ist.
Gib mir deine Beine dafür.
Schwimmen ist gut und schlecht zugleich, wenn man zornig ist. Es kann den Zorn vertreiben, ihn aber auch schärfen und verfeinern. In London sagte man mir, ich müsse mich meinen »Pro blemen « stellen, wenn ich wieder eine leitende Position haben wolle. Dazu sei, so meine Arbeitgeber, eine intensivere Therapie notwendig, außerdem eine schriftliche Selbsteinschätzung und Analyse. Das sagten sie mir an einem warmen Nachmittag, als die Sonne gerade hinter dem alten Battersea-Kraftwerk verschwand, und meine Reaktion darauf war, professionell gesprochen, »un angemessen «.
»Scheiße noch mal, Sie reden hier mit einer ausgebildeten Psychologin!«, sagte ich.
Oder kreischte ich?
Zugegeben, ich kreischte. Kreischen ist zutiefst weiblich und unweiblich zugleich. Wenn Frauen Dampfkochtöpfe imitieren, zeigen sie sich von ihrer schlimmsten Seite, der Seite, die Männer »leidenschaftlich« oder »verrückt« nennen, je nachdem, wie gut man aussieht.
»Kommen Sie mir jetzt nicht mit gönnerhaften Vorträgen, dass ich mich der neuen Realität stellen soll: Ich lebe jeden Tag damit! Ich
bin
die neue Realität!«
Kreischen eignet sich auch nicht gut zur Kommunikation in einer psychiatrischen Einrichtung, sofern man kein Insasse ist, bisher zu den geistig Gesunden gerechnet
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