Engel Der Nacht
und ihm jegliche Kraft raubte. Das würde nicht vergehen, solange er den Schwur nicht leistete. Er würde also sagen, was er sagen musste, doch eines Tages würde er den Jungen für diese Demütigung zerstören, das schwor er sich.
»Herr, ich werde dein Mann«, sagte Chauncey gehässig.
Der Junge hob Chauncey auf die Füße. »Triff mich hier zu Beginn von Cheschwan nach dem jüdischen Kalender. In den beiden Wochen zwischen Neumond und Vollmond werde ich deine Dienste einfordern.«
»Zwei Wochen …?« Chaunceys ganzer Körper zitterte unter der Macht seiner Wut. » Ich bin der Herzog von Langeais !«
»Du bist ein Nephil«, sagte der Junge mit der Andeutung eines Lächelns.
Chauncey lag ein gotteslästerlicher Fluch auf der Zunge, aber er beherrschte sich. Dann fragte er mit eisigem Gift in der Stimme: »Was hast du gesagt?«
»Du gehörst zur biblischen Rasse der Nephilim. Dein wahrer Vater war ein gefallener Engel. Du bist nur halb sterblich.« Die dunklen Augen des Jungen hoben sich, und ihr Blick traf Chaunceys: »Ein halb gefallener Engel.«
Aus den Tiefen der Erinnerung drang die Stimme seines Lehrers in Chaunceys Bewusstsein, der Passagen aus der Bibel vorgelesen und von einer abartigen Rasse gesprochen hatte, die entstanden war, als aus dem Himmel verstoßene Engel sich mit menschlichen Frauen paarten. Eine furchterregende und mächtige Rasse. Ein Schauder, der nicht nur von Abscheu verursacht war, ergriff Chauncey. »Wer bist du?«
Der Junge drehte sich um und ging weg, und obwohl Chauncey ihm folgen wollte, konnte er seine Beine nicht zwingen, die Last seines Körpergewichtes zu tragen. Als er dort kniete und ihm durch den dichten Regen nachblinzelte, erblickte er auf dem nackten Rücken des Jungen zwei wulstige Narben. Sie liefen nach oben aufeinander zu und bildeten ein umgedrehtes V.
»Bist du - ein Gefallener?«, rief er. »Deine Flügel sind dir ausgerissen worden, nicht wahr?«
Der Junge - Engel - oder was auch immer er war, drehte sich nicht um. Doch Chauncey brauchte keine weitere Bestätigung.
»Dieser Dienst, den ich dir leisten soll«, rief er. »Ich will wissen, worin er besteht!«
Das Lachen des Jungen hallte durch die Nacht.
EINS
Coldwater, Maine, Gegenwart
A ls ich in den Biologie-Raum trat, blieb mir der Mund offen stehen. An der Tafel war auf mysteriöse Weise eine Barbiepuppe mit Ken an ihrer Seite befestigt. Irgendjemand hatte sie so zurechtgebogen, dass sie sich umarmten, und abgesehen von an einigen ausgewählten Stellen drapierten, künstlichen Blättern waren sie nackt. Über ihren Köpfen stand in dicker rosafarbener Kreide:
WILLKOMMEN BEI DER MENSCHLICHEN FORTPFLANZUNG (SEX)
Vee Sky neben mir verkündete: »Genau das ist der Grund, warum die Schule keine Fotohandys erlaubt. Es bräuchte nicht mehr als ein paar Bilder davon in der eZine, und das Schulamt würde Bio streichen. Und dann könnten wir endlich mal was Produktives mit der Stunde machen - Einzelstunden-Nachhilfe von hübschen Jungs aus der Oberstufe nehmen, beispielsweise.«
»Vee, warum nur werde ich das Gefühl nicht los, dass du dich schon das ganze Semester auf das Thema gefreut hast?«, fragte ich.
Vee senkte die Augenlider und schenkte mir ein verruchtes Lächeln: »Glaub mir, dieser Kurs wird mich nichts lehren, was ich nicht schon längst weiß.«
»Vee? Als Jungfrau?«
»Nicht so laut.« Sie zwinkerte mir zu, gerade als uns die
Schulglocke auf die Plätze schickte, nebeneinander an unserem Tisch.
Coach McConaughy griff nach der Trillerpfeife, die um seinen Hals hing, und pfiff. »Auf die Plätze, Team!« Coach verstand den Biologieunterricht in der zehnten Klasse als Nebenjob zu seiner Tätigkeit als Trainer der Basketball-Schulmannschaft, und wir alle wussten das.
»Es mag euch Kids vielleicht noch nicht in den Sinn gekommen sein, dass Sex mehr ist als ein Fünfzehnminutentrip auf dem Rücksitz eines Autos. Es ist eine Wissenschaft. Und was ist Wissenschaft?«
»Langweilig«, rief irgendjemand von hinten.
»Der einzige Kurs, in dem ich durchfalle«, sagte jemand anderes.
Coachs Blick wanderte die erste Reihe entlang und blieb an mir hängen: »Nora?«
»Das Entdecken von etwas«, sagte ich.
Er kam zu mir und stieß seinen Zeigefinger vor mir auf den Tisch. »Was noch?«
»Wissen, das durch Versuche und Beobachtungen gewonnen wurde.« Wundervoll. Ich hörte mich an, als würde ich für die Audio-CD zu unserem Lehrbuch vorsprechen.
»In Ihren eigenen Worten.«
Ich berührte meine
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