Engel der Schuld Roman
damit er sich davon überzeugen konnte. »Damit haben Sie Ihre gute Tat für dieses Jahrzehnt vollbracht. Sie sind entlassen.«
Jay ignorierte die Andeutung, daß er nicht willkommen war, und setzte sich auf die dicke Armlehne des Polstersessels. Er war Weltmeister darin, den Begriffsstutzigen zu spielen. Diese Fähigkeit hatte ihm als Anwalt gute Dienste geleistet, und als Schriftsteller erst recht. Hartnäckigkeit, lautete die Losung, wenn es darum ging, Informationen zu bekommen.
»Halten Sie das für einen Teil von Wrights Plan?« fragte er. »Für ein Ablenkungsmanöver? Ich hätte gedacht, das Zurückbringen des Kirkwood-Jungen hätte das schon erreicht.«
»Aber es hat die Verteidigungslinie nicht geschwächt«, murmelte Ellen mehr zu sich selbst als zu Jay.
»Das verstehe ich nicht.«
»Ein Vergleich aus dem Football. Ich hatte einen Juraprofessor, der früher mal für die Vikings gespielt hat.«
»Ah, ich stehe auf Baseball.«
»Das angreifende Team bietet eine Formation, die die Defen sive dazu bringt, sich übers ganze Feld zu verteilen, was unvermeidlich Löcher schafft, durch die die Offensive schlüpfen kann.«
»Neue Opfer in einer anderen Stadt zwingen die Untersuchungsbehörden, sich breiter zu streuen, statt sich ganz auf Wright und seinen geheimnisvollen Helfer zu konzentrieren«, schloß Jay. Er nickte Ellen zu. »Scharf gedacht, Counselor.«
»Alles Mutmaßung und Spekulation«, sagte sie und ging zur Tür. »Es kann genausogut sein, daß die Entführung von Dustin Holloman keinerlei Beziehung zu der Entführung von Josh Kirkwood hat.«
Er dachte an das, was er heute abend in Campion gesehen und gespürt hatte. Den scharfen metallischen Geruch der Angst, das Gefühl, daß der Ort irgendwie in ein anderes Universum gerutscht war. Das Böse. Es war so präsent gewesen wie die Polizei und die Presse. Es schien die Nacht zu durchtränken, sie schwärzer zu färben, den Wind noch schneidender zu machen. Und davor flatterte, an den nackten Ast eines wintertoten Baums gebunden, der grellviolette Schal eines kleinen Jungen.
Er erinnerte sich an den Gedanken: Du lieber Himmel, Brooks, wo bist du da hineingeraten?
In wesentlich mehr, als er vorausgesehen hatte.
»Ich glaube, wir wissen es besser«, sagte er zu Ellen und richtete sich langsam auf. »Die Frage ist, wie es die Anklage gegen Wright beeinflussen wird.«
Ellen holte tief Luft und atmete hörbar aus. Dann lehnte sie sich wieder an die Wand, zu erschöpft, um aufrecht zu stehen. »Hören Sie, Sie haben recht, es war ein langer Tag, und ich habe noch zu arbeiten. Es hat keinen Sinn, wenn Sie noch bleiben, weil ich nichts mit Ihnen teilen werde . . .«
»Im Hinblick auf den Fall oder im Hinblick auf Sie selbst?«
»In jeglicher Hinsicht.«
»Bei Ihnen kann ich einfach nicht gewinnen, nicht wahr?« Er spielte den Frustrierten, zog die Brauen zusammen. Doch wie immer war an seinen Augen zu sehen, wie sehr er sich amüsierte.
Ellen zwang sich, die Wirkung seiner Miene zu ignorieren. »Nicht mal an Ihrem besten Tag.«
Jay erwog, ob es weise wäre, jetzt nicht lockerzulassen, entschied sich aber, sie nicht noch weiter zu reizen. Er mußte sie für sich gewinnen, durfte sie nicht ein für allemal abschrecken. Er mußte sich erst einmal aus dem Loch graben, in das ihn das Glendenning-Debakel gestürzt hatte, was, wie er zugeben mußte, ein ziemlicher Schnitzer seinerseits gewesen war. Anstatt ihm den Weg zu ebnen, hatte das Hinzuziehen von Glendenning wie das Hinwerfen eines Fehdehandschuhs gewirkt. Geschah ihm recht, weil er sich so Hals über Kopf in die Sache gestürzt hatte. Aber jetzt steckte er drin, war ein Teil davon. Das war schließlich das Ziel gewesen – hineinzukommen.
»Gute Nacht, Mister Brooks«, sagte sie und öffnete die Tür.
Er schob die Hände in seine Jackentasche, zog beim bloßen Gedanken an die Kälte die Schultern hoch und warf einen sehnsüchtigen Blick zurück auf das Feuer. Der Retriever tapste die Treppe hinunter und schlenderte an ihm vorbei. Er wedelte zwar mit dem Schwanz, ließ sich aber auf seinem Weg zu einem warmen Fleckchen am Kamin nicht aufhalten. Das gemütliche Szenario traf ihn an einer Stelle, von der er hätte schwören können, daß sie nicht so empfindlich war.
»Na ja«, sagte er gedehnt auf dem Weg zur offenen Tür, »wenigstens mag mich der Hund.«
»Darauf würde ich mir nicht zuviel einbilden«, riet ihm Ellen. »Er trinkt auch aus dem Klo.«
Er blieb vor ihr stehen. Nahe genug,
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