Engel sterben
ebenso außer sich vor Wut über die Kälte, mit der ihre Mutter die Veranstaltung hinter sich gebracht hatte. Längst saß diese wieder im Zug nach Hamburg, wie von Furien gehetzt war sie aus dem Haus ihres verstorbenen Vaters geflohen. Karoline war allein zurückgeblieben, allein mit ihrer Trauer und ihrer Wut, die sie durch einen langen Fußmarsch besänftigen wollte. Doch als die Hüfte zu schmerzen begann und gleichzeitig der Schlüssel des Spökenhauses, wie es längst von den Syltern genannt wurde, so verlockend präsent war, hatte sie zugegriffen. Aus dem einen Besuch waren viele und die Villa am Watt war für Karoline zum tröstlichen Ziel ihrer Spaziergänge geworden.
Gern würde Karoline jetzt die Handschuhe ausziehen, um das kühle Metall auf der Haut zu spüren, aber sie ignoriert den Impuls. Eine blödsinnige Vorsicht hält sie ab. Sie dreht den Schlüssel im Schloss, wobei sie die Tür leicht anheben muss. Gleich darauf schließt sie die Außentür sorgfältig hinter sich. Auf ihrem Weg in den Erker befällt Karoline ein irritierendes Schwindelgefühl, und sie gönnt sich die ersten hinkenden Schritte. Welche Erleichterung.
Wie immer knirscht der Sand unter ihren Schuhen, Nordseesand, der im Lauf vieler Jahre durch die wenig dichten Fenster geweht worden ist. Nordseesand, der eine Verbindung zwischen Haus und Insel bildet und sich in leichten Dünen auf den Bodendielen ablagert. Nordseesand, ein feiner Belag, in den Karoline in den vergangenen Wochen und Monaten ihre Fußspuren eingegraben hat. Es sind viele Fußspuren, denn Karoline verbringt häufig ihre Abende hier. Längst ist sie der Einsamkeit und dem morbiden Charme des Hauses verfallen, und außerdem ist der Blick durch den Runderker hinüber zum Watt selbst durch ungeputzte Fensterscheiben unvergleichlich schön.
Doch eines fehlte ihr in den ersten Wochen zum Glück. Musik. Die Schallplattensammlung im Wohnraum ist wie alles andere in diesem Haus in den siebziger Jahren steckengeblieben. Märchenplatten und James-Last-Potpourris. Karoline achtet sorgsam darauf, dass immer die gleiche Märchenplatte auf dem Teller liegt, wenn sie das Haus verlässt. Es scheint ihr, als sei sie diesen Liebesdienst den drei Mädchen vom Foto auf dem Kamin schuldig, die für Karoline die einzigen Bewohnerinnen des Hauses sind. Gern stellt sie sich vor, dass die drei ihre kleinen Schwestern sind und in der oberen Etage in ihren Betten liegen und schon schlafen, so tief und fest, dass auch die laute Musik, die Karoline gleich aufdrehen wird, sie nicht stören kann. In den letzten Wochen hat Karoline einige Schallplatten mitgebracht, die ihre Mutter vor vielen Jahren im Haus des Großvaters zurückgelassen hat, vor allem Popklassiker aus den achtziger Jahren.
Zwitschernd, als handle es sich um ein Kinderlied, beginnt Annie Lennox ihren Song. Dada-duda-dadada. Karoline weiß genau, dass sie den Lautstärkeknopf der Musiktruhe bis zum Anschlag aufdrehen kann, denn das Haus ist ausgezeichnet isoliert und das Grundstück groß.
Dada-duda-dadada.
Die sinnlosen Silben hüpfen durch den Raum, springen auf den Polstern herum wie ausgelassene Kinder und wirbeln den Staub von Jahrzehnten auf.
»It’s an orchestra of angels, playing with my heart …«
Würde die Hüfte nicht so schmerzen, würde auch Karoline im Takt von Annie Lennox’ Worten tanzen und hüpfen. Und vielleicht, wer weiß, kämen sogar ihre drei Schwestern von oben herunter, um sich in den wilden Tanz einzureihen.
Dienstag, 21. Juli, 16.05 Uhr,
Wattvilla, Kampen
Über der Sylter Heide liegt der Glanz eines Sommernachmittags. Die Luft ist erfüllt vom Duft der Kräuter, vom Salz des Meeres und vom Modergeruch des Schlicks am Wattrand. Die Stille wird nur vom Triumphgeschrei der Möwen unterbrochen. Und von dem stockenden Wortwechsel zwischen einer Maklerin und einem Villenbesitzer.
Vor wenigen Minuten haben sich Mona Hofacker und Markus Rother auf der Einfahrt eines verwilderten Grundstücks an Kampens Wattseite getroffen. Sie sind gemeinsam die Stufen zum Haus hinaufgestiegen und haben auf dem Hügelkamm schweigend die Aussicht genossen. Mona Hofacker hat sofort den besonderen Wert dieser Immobilie erkannt. »Unverbaubarer Rundblick« wird sie später im Exposé schreiben. Auf der einen Seite kann man weit über die Felder und den Golfplatz bis hinüber zum alten Leuchtturm sehen. Auf der anderen Seite liegt das Naturschutzgebiet.
»Der Blick ist traumhaft. Es ist durchaus möglich, dass wir
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