Engel sterben
Treppenstufen liegt eine reinweiße Feder. Sie ist etwa zehn Zentimeter lang und hat einen kräftigen Stiel. Bei ihrem Anblick weiten sich die Augen des Hausbesitzers für Sekunden. Dann stürmt Rother in die Diele, eilt die Treppe hinauf und greift nach der Feder.
»Sie müssen nicht aufräumen«, erklärt Mona leichthin. »Oft mögen es die Interessenten, wenn die Objekte bewohnt aussehen.«
»Bewohnt«, echot Rother und fährt mit den Fingerspitzen den Federkiel entlang. »Dieses Haus ist schon lange nicht mehr bewohnt, das habe ich Ihnen doch gerade gesagt.« Seine Stimme klingt aggressiv.
»Ja, natürlich. Ich hab’s nicht vergessen.«
Mona atmet tief durch und denkt, schwieriger Kunde, schwierige Situation, hoffentlich ist nicht auch noch ein Haken an dem Haus.
Aber sie redet entschlossen gegen ihre Irritation an.
»Wo beginnen wir mit unserer Besichtigung? Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich mir ein paar Notizen mache? Und wenn Sie noch einen Grundriss hätten, würde ich gern eine Kopie davon ziehen. Fürs Exposé.«
Nur die Ruhe bewahren und immer professionell bleiben. Makler ist ein Dienstleistungsberuf, da muss man auch mit eigenwilligen Auftraggebern klarkommen. Die Provisionen sind stattlich und entschädigen für manches. Allein die Vermittlung dieses Verkaufes könnte Mona mehr als hunderttausend Euro einbringen. Das ist ein guter Grund, so manche Schrulligkeit zu tolerieren. Außerdem scheint Markus Rother sich jetzt auf den Grund ihrer beider Anwesenheit zu besinnen. Seine Gestalt strafft sich, als er die Stufen hinuntersteigt, doch dann bleibt er plötzlich stehen und mustert die Fußspuren im Sand.
»Sieht aus, als sei ab und an doch jemand hier gewesen.«
»Sie waren es nicht?«, erkundigt sich Mona irritiert.
»Nein. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich dieses Haus seit Jahrzehnten nicht betreten habe. Vielleicht war meine Mutter vor ihrem Tod noch einmal hier. Erzählt hat sie davon nichts, aber denkbar ist es durchaus. – Wie auch immer. Das ist jetzt nicht mehr wichtig.«
Langsam geht Rother an Mona vorbei und stößt die breite Tür am Ende der Diele auf. Ein lichtdurchfluteter Raum öffnet sich, in dem vor einem breiten Fenster unordentlich sechs Stühle um einen ovalen Esstisch verteilt sind. Niemand hat sie geradegerückt, so dass die Szene wirkt, als sei die Familie des Hausbesitzers eben erst aufgestanden. Markus Rother geht zum Tisch und streicht behutsam den Sand von einer der Stuhllehnen. Als Mona ihm folgt, entdeckt sie auf dem Tisch eine stark vergilbte Zeitung. Das Kreuzworträtsel unter dem Sand ist halb gelöst, der Kugelschreiber liegt noch auf der Zeitungsseite. Mona wirft einen schnellen Blick auf das Datum. 29. Juli 1979.
Die Maklerin wendet sich ab. Was immer hier geschehen ist, es geht sie nichts an. Da der Raum zu beiden Seiten offen ist, also Diele und Treppenaufgang hufeisenförmig umgibt, kann sie sich unauffällig entfernen, indem sie die seitlichen Flügel erkundet. Links befindet sich eine Küche, deren Einbauschränke im Landhausstil sogar der heutigen Nostalgiemode entsprechen. Eine niedrige Tür scheint zu einer Kammer unter der Treppe zu führen. Oder in den Abgang zum Keller. Neben der Tür hängt ein Abreißkalender aus dem Jahr 1979. Das obere Blatt zeigt das gleiche Datum wie die Zeitung. Darunter steht ein Stefan-George-Vers.
Sieh diese blaue stunde
Entschweben hinterm gartenzelt!
Sie brachte frohe funde
Für bleiche schwestern ein entgelt.
Mona findet den Vers in seiner kühlen Emotionalität merkwürdig passend. Sie wendet sich ab und geht an dem immer noch schweigsamen Eigentümer vorbei quer durch den Essbereich in den Wohnraum. Er mündet in einen halbrunden Erker mit traumhaftem Blick über das Watt. Zwei tiefe Sofas rahmen einen Kamin aus Backsteinen. Gegenüber steht eine Musiktruhe. Die Seite mit dem Plattenspieler ist aufgeklappt, eine Platte liegt auf dem Teller, die Hülle auf der geschlossenen Truhenhälfte. Es ist eine Europa-Märchenplatte.
Schneeweißchen und Rosenrot
von den Brüdern Grimm, gelesen von Hans Paetsch. Mona dreht sich um und sieht plötzlich sehr deutlich drei Mädchen nebeneinander auf einem der Sofas sitzen, sie tragen bunte Kleider und lauschen konzentriert der Stimme des Erzählers. Das Foto auf dem Kaminsims ist nur eines in einer ganzen Reihe silbergerahmter Familienbilder. Neugierig tritt Mona näher. Doch die scharfe Stimme Markus Rothers hält sie auf.
»Lassen Sie die Fotos. Ich zeige Ihnen
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