Engel sterben
etwas, das sie ablenkt, nachdem ihr der Mann weggelaufen ist.«
»Weggelaufen« war vielleicht nicht ganz der richtige Ausdruck, denn um wegzulaufen, musste man vorher da gewesen sein. Aber einen Vater hatte es für Karoline nie gegeben. Die Mutter weigert sich bis heute konsequent, zu diesem Thema Auskunft zu erteilen, selbst in Karolines Geburtsurkunde steht »Vater unbekannt«.
Vielleicht hat Karoline darum dem Großvater über Jahre nichts von den zunehmenden Hüftschmerzen erzählt. Sie schienen dem Mädchen ein passender körperlicher Makel zu dem längst vorhandenen seelischen zu sein. Mit einem Bein zu hinken, das war ein stimmiges Bild für ein Kind, dem das zweite Elternteil fehlte, fand Karoline damals.
Als kurz vor ihrem Schulabschluss die Schmerzen fast unerträglich geworden waren, das Hinken sich nicht mehr verbergen ließ und nun doch eine ganze Reihe von Ärzten konsultiert wurde, waren die Hüftknochen längst schief verheilt. Die Sechzehnjährige hätte sich die Hüfte noch einmal brechen lassen müssen, was sie energisch ablehnte.
Seitdem humpelt sie auch öffentlich, wenn man bei ihrem zurückgezogenen Leben auf der Insel überhaupt von Öffentlichkeit sprechen kann. Tagsüber ein sitzender Job in der Kurverwaltung und abends die langen Gespräche mit dem Großvater, viel mehr Abwechslung hat es in den letzten zehn Jahren in Karolines Leben nicht gegeben.
Doch vor wenigen Monaten ist der Großvater, obwohl erst in den Siebzigern und noch ziemlich rüstig, sehr plötzlich gestorben. Hat am Morgen steif und kalt in seinem Bett gelegen, Opfer eines Herzschlags, wie der Notarzt feststellte. Als der Mediziner sich anschließend unterstand, das Klischee vom schönen Tod zu bemühen, hat Karoline ihn hinausgeworfen.
Seitdem wohnt sie allein in dem alten Heidehaus. Die Mutter ist nur zur Beerdigung gekommen, sie konnte mit ihrer seltsamen Tochter noch nie viel anfangen, obwohl Karoline ihr einziges Kind geblieben ist.
Karoline vermisst die Mutter nicht, dafür den Großvater umso schmerzlicher. Ein wenig Trost hat sie nach seinem Tod in ihren abendlichen Wanderungen gefunden. Über die Straße in Richtung Watt, dann den sandigen Weg entlang bis zur Treppe, die den Heidehügel hinaufführt. Nach dem beschwerlichen und schmerzhaften Aufstieg eine Pause auf der Holzbank. Vor wenigen Wochen hat die Kurverwaltung das alte bemooste Exemplar durch ein neues ersetzen lassen. Karoline kann sich nur schlecht an das glatte Holz der neuen Bank gewöhnen. Zum Glück ist die Aussicht dieselbe geblieben, dieser unvergleichliche Blick über die Heide.
Die sich kreuzenden Wege liegen im schattenlosen Licht der Dämmerung vor ihr wie eine Landschaft gewordene Straßenkarte. Sauber gezeichnet und vollkommen menschenleer. Karolines Blick geht über die Hügel, bis zu dem Haus mit dem halbrunden Erker. Es wurde vor etwa vierzig Jahren von einer Industriellenfamilie aus Düsseldorf erbaut. Karoline kennt den Namen der Besitzer nicht, aber alle hier am Watt wissen, dass das Haus seit vielen Jahren leer steht. Und vermietet wird es auch nicht. Dabei ist beim Bau an nichts gespart worden, Geld scheint in der Familie ausreichend vorhanden gewesen zu sein. Trotzdem muss es irgendwelche Zerwürfnisse oder Scheidungen gegeben haben. Das alles ist schon lange her, nur die Alten erinnern sich und würden vielleicht davon erzählen. Aber was interessieren Karoline die Probleme anderer Leute? Ihr reicht es vollständig, zu wissen, dass das Watthaus unbewohnt ist und niemand sie heute Nacht stören wird.
Der Schlüssel für die Eingangstür liegt unter einem Findling neben der Garage. Das hat Karoline als Kind entdeckt, auf einer übermütigen Streiftour durchs Watt, bei der sie eine Schulfreundin begleitet hat. Die beiden Mädchen wollten ein improvisiertes Picknick auf der Terrasse des damals schon unbewohnten Hauses abhalten. Auf der Suche nach einem geeigneten Tischersatz hatte Karoline versucht, den Findling anzuheben. Aber der Stein war viel zu schwer, so dass das Mädchen ihn lediglich zur Seite kippen konnte. Dabei hat es den Schlüssel gefunden und sein Geheimnis seitdem für sich behalten, ohne jemals von diesem Wissen Gebrauch zu machen.
Doch als Karoline wenige Tage nach dem Tod des Großvaters auf einem langen Spaziergang wie von selbst den Weg zu dem Watthaus fand, lag der Schlüssel immer noch unter dem Findling. Es war am Abend nach der Beerdigung, und Karoline war außer sich vor Trauer über den Verlust und
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