Engel und Dämonen: Kriminalroman (German Edition)
Und damit auch erfahren genug war, um zu wissen, dass ihm nicht viel Zeit blieb, um unterzutauchen. Dass sie ihn jetzt in Wien fanden, erstaunte Bergmann. Der Mann hatte genug Zeit und Geld gehabt, um sich ins Ausland abzusetzen. Stattdessen treibt er sich auf der Lände herum und findet seinen Richter in stumpfer Gewalteinwirkung gegen den Hals. Wahrscheinlich ein Handkantenschlag, der ihm den Kehlkopf zerquetscht hat; möglicherweise eine der üblichen spätabendlichen Streitereien zwischen alkoholisierten Männern; allerdings hatte das Opfer sonst keine sichtbaren Verletzungen, was den Schluss nahelegte, dass der Angreifer überraschend zuschlug und kampferfahren war. Einer dieser jugendlichen Testosteronjugos, wie Schäfer sie nannte: frustrierte Schulabbrecher oder Arbeitslose, die ihr Zuviel an Zeit in suspekten Fitnessstudios verbrachten, wo ihnen das Zuschlagen ohne die Konsequenzen beigebracht wurde.
Selbstjustiz oder ein Racheakt waren natürlich ebenso wenig auszuschließen, dachte Bergmann und legte den Akt rechts neben den Obdachlosen.
Der restliche Stapel beinhaltete keine Tötungsdelikte. Und damit das, was den Einsatzbereich Leib und Leben tagtäglich am Laufen und Ermitteln hielt: Straßenschlägereien, Messerstechereien, Gewalt von Türstehern und gegen diese, prügelnde Ehemänner und Lebensgefährten, Pensionisten, die mit Luftpistolen auf lärmende Kinder schossen, Autofahrer, die sich wegen eines Parkplatzes an die Gurgel gingen, Pöbeleien unter Jugendlichen, die außer Kontrolle gerieten … dass die Aufklärungsquote trotz der Anzahl der Delikte und der Personalknappheit bei fast achtzig Prozent lag, erschien Bergmann immer wieder rätselhaft. Andererseits: Die Mehrzahl der Täter war betrunken, dumm, aktenkundig, so laut, dass es sofort Zeugen gab, stand vor einer Überwachungskamera – oder schlicht alles zusammen. Welchen Beruf hätte ich eigentlich, wenn alle Menschen gut wären, fragte sich Bergmann, lehnte sich zurück und legte umständlich die Füße auf den Tisch, nur ein paar Sekunden allerdings – er war nicht der new sheriff in town , der alte wäre hoffentlich bald wieder da, hoffentlich, hoffentlich, hoffentlich.
Am frühen Nachmittag – Bergmann hatte eben die Aussagen der Nachbarn eines krankenhausreif geschlagenen Reklamezustellers überprüft und deren Glaubwürdigkeit sowie Gewaltbereitschaft einzuschätzen versucht – rief Kamp ihn zu sich. Schon als er die Nummer des Obersts am Display sah, setzte in ihm der bekannte Widerstreit zwischen Hoffnung und Verzweiflung ein. Wir haben ihn gefunden. Tot oder lebendig? Doch Kamp wusste nicht mehr oder weniger als Bergmann selbst.
„Nichts Neues“, begann er das Gespräch und Bergmann erkannte nicht, ob es eine Frage oder Feststellung war.
„Nein … seine Mutter ruft jeden Tag zweimal an und fragt mich dasselbe … seine Nichte oder sein Bruder täglich … was soll ich ihnen sagen …“
Kamp schaute an die Decke und strich sich mit beiden Händen über die Wangen, als überprüfte er seinen Bartwuchs.
„Ich weiß, dass Sie den Fall gern übernehmen würden“, sagte er, als die Stille zu nichts mehr führte.
„Aber?“
„Sie kennen das Aber. Solange es keinen Hinweis auf ein Gewaltverbrechen gibt, suchen die Fahnder nach ihm, Kollege hin oder her … außerdem sind wir … sind Sie befangen … was soll ich machen …“
„Pervers … die einzige Möglichkeit, dass wir ihn offiziell suchen dürfen, ist, etwas zu finden, das beweist, dass er wahrscheinlich getötet worden ist …“
„So ist es eben … haben Sie was gefunden?“
„Ich ermittle ja gar nicht.“
„Lassen Sie das … also?“
„Nein … ich war dreimal in der Wohnung … ein Anzug fehlt … wenn er ihn nicht zur Caritas gebracht hat … Sportkleidung, Bergschuhe, sein Laptop … ohne Befangenheit würde ich sagen, die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Person abgesetzt hat, ist durchaus gegeben … zumal sein Verhalten in den letzten beiden Jahren sowie seine Aussagen … ich kann nicht glauben, dass er einfach so verschwindet. Ohne sich zu melden … zumindest bei seiner Familie … das würde Schäfer ihnen nicht antun …“
Sie sahen sich schweigend an, ihre Gedankenwege fanden zueinander, sahen an der Kreuzung das Wort Selbstmord und weigerten sich, es in Sprache zu wandeln.
„Wenn ich an den Fall Lopotka denke …“, sagte Kamp leise.
„Dann?“
„Da war unserem Major der Unterschied zwischen Finden und Erfinden herzlich
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