Engelsbann: Dunkle Verlockung Teil 2 (German Edition)
trug. Natürlich war genau das die Krux an der Sache: Noel war Raphaels Mann, und Raphael duldete keine Schwächlinge.
Als sie schließlich in ihrem eigenen Gemach angelangt waren, bedeutete sie ihm mit einem Nicken, die Tür hinter sich zu schließen. Noch vor einem Monat hätte sie nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet, solche Maßnahmen zu ergreifen – so großes Vertrauen hatte sie in die Angehörigen ihres Hofes gehabt. Doch jetzt … Mit diesem Schmerz musste sie nun seit vierzehn Tagen leben, und es wurde nicht leichter, ihn zu ertragen.
Sie ging an dem glatten, gepflegten Holztisch unter dem großen Fenster vorbei, an dem sie oft saß, um ihre private Korrespondenz zu verfassen, und öffnete die oberen Türen eines an der Wand stehenden Schrankes. Mit säuselnder Zärtlichkeit strichen die gerollten Ranken eines zarten Farns über ihren Handrücken, als sie die Tür zu einem Objekt freilegte, das wie ein einfacher Tresor aussah, das aber kein Einbrecher würde öffnen können.
Nachdem sie eine kleine, bis zur Hälfte mit einer lumineszierenden Flüssigkeit gefüllte Phiole herausgenommen hatte, drehte sie sich um und sagte zu dem Mann, der reglos wie Stein einige Schritte von ihr entfernt stand: »Weißt du, was das ist?«
Seine Miene war verschlossen, doch das minderte nicht die Intelligenz, die in seinem durchdringenden Blick lag. »Ich habe so etwas noch nie zuvor gesehen.«
So wunderschön, dachte sie, als sie die Phiole ins Licht hielt und die Farben durch die Bewegung darin durcheinanderwirbelten und schäumten. In das Kristallglas selbst war nur eine einzige Sigille eingelassen, die für ihren Namen stand, und außerdem dünne Zierlinien aus feinem Gold. »Das liegt daran, dass diese Flüssigkeit mehr als selten ist«, sagte sie leise. »Sie wird aus einer Pflanze gewonnen, die man im tiefsten, undurchdringlichsten Teil des Regenwaldes von Borneo findet.« Sie trat auf Noel zu und hielt ihm die Phiole hin.
In seiner großen Hand sah das Fläschchen geradezu lächerlich klein aus, wie ein Spielzeug, das man einem danach weinenden Kind gestohlen hatte. Er hielt es sich vor die Augen und neigte es vorsichtig zur Seite. Die Flüssigkeit verteilte sich von Innen auf dem Kristallglas und brachte dessen Oberfläche zum Leuchten. »Was ist es?«
»Mitternacht.« Sie nahm die Phiole wieder an sich und legte sie auf dem Schreibtisch ab. »Eine Spur davon tötet einen Menschen, ein größerer Hauch versetzt einen Vampir ins Koma, und schon sieben Gramm reichen aus, um dafür zu sorgen, dass die meisten Engel unter achthundert Jahren für zehn lange Stunden nicht mehr aufwachen.«
Ruckartig hob Noel den Blick und sah ihr in die Augen. »Dein zukünftiges Opfer hat also nicht den Hauch einer Chance.«
Seine Schlussfolgerung überraschte sie nicht – angesichts ihres Rufs war nichts anderes zu erwarten gewesen. »Ich besitze es seit dreihundert Jahren. Es war das Geschenk eines Freundes, der glaubte, ich würde es eines Tages vielleicht brauchen können.« Ihre Mundwinkel hoben sich bei dem Gedanken an den Engel, der ihr diese tödlichste aller Waffen gegeben hatte – wie unter Menschen vielleicht ein großer Bruder seiner Schwester ein Messer oder eine Pistole geben würde. »In seinen Augen war ich immer zerbrechlich.«
Noel fand, dass dieser Freund sie nicht gut gekannt haben konnte. Nimra mochte zwar aussehen, als würde sie unter dem leisesten Druck zusammenbrechen, doch als dahinwelkende Lilie hätte sie Louisiana mit Sicherheit nicht gegen all die anderen Mächte in der weiteren Umgebung verteidigen können, zu denen auch der grausame Nazarach zählte. Da Noel selbst nicht so blind war, ließ er Nimra nicht aus den Augen, während sie ihm ihre exquisiten, einladenden Flügel zuwandte, die Phiole aufnahm und diese wieder in den Tresor legte.
Ihre geradezu fühlbare Schönheit war eine Falle, ein Köder, der die Unachtsamen dazu brachte, ihre Deckung fallen zu lassen. So arglos war Noel nie gewesen – und seit den Ereignissen in der Zufluchtsstätte … Falls es danach noch Reste von Arglosigkeit oder Unschuld in ihm gegeben hatte, waren sie inzwischen längst abgestorben.
»Vor zwei Wochen«, sagte Nimra halblaut, als sie die Türen des Schrankes schloss und sich wieder zu ihm umdrehte, »hat jemand versucht, mir Mitternacht unterzumischen.«
2
Noel hielt die Luft an. »Ist es demjenigen gelungen?«
Als Nimra den Kopf schüttelte, durchfuhr ihn die Erleichterung wie ein tosender
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