Falkenjagd: Ein Fall für Robert Walcher (Ein Robert-Walcher-Krimi) (German Edition)
Nestwärme
Die Schmerzen erstreckten sich über ihren ganzen Körper. Im Gesicht, auf der Brust, auf dem Rücken und am Gesäß waren sie erträglich. Aber ihr Unterleib brannte so, wie der Pfarrer das Höllenfeuer beschrieben hatte. Rodica dachte an ihren Unfall mit dem Fahrrad ihres Bruders vor drei Jahren, als sie barfuß von den Pedalen abgerutscht und mit voller Wucht auf die Querstange geschlagen war. Sie erinnerte sich genau daran, wahrscheinlich auch deshalb, weil sie mehrere Tage geblutet hatte.
Damals war sie elf Jahre alt. Seitdem blutete sie jeden Monat, und sie glaubte, es läge daran, dass die Wunde immer wieder aufplatzte. Sie hatte sich nie getraut, mit ihrer Mutter darüber zu sprechen. Mit dem Vater sowieso nicht. Der hätte sie vermutlich geschlagen, wie er fast täglich ihre ältere Schwester Ewa schlug, die als Blitzableiter der Familie herhalten musste. Ewa war geistig behindert. An ihr durften sich selbst die beiden jüngeren Brüder austoben, und manchmal schlug auch die Mutter zu, wenn Ewa ihr gerade im Weg war oder nur dastand und träumte. Ewa weinte dann still vor sich hin, aber das tat sie sowieso die meiste Zeit.
Der Vater hatte sich nie groß um Rodica gekümmert, das war nichts Ungewöhnliches, aber seit einigen Wochen verhielt sich auch die Mutter seltsam und abweisend. Rodica verstand das nicht. Immer wieder grübelte sie, ob sie irgendetwas falsch gemacht hatte, konnte sich aber an nichts erinnern. Angefangen hatte es an dem Tag, an dem das Schuljahr und damit ihre Schulzeit zu Ende war. Bilbor, das kleine rumänische Dörfchen, bot keine Berufsaussichten, und auch in der fünfzehn Kilometer entfernten Kreisstadt Vatra Dornei gab es keine Lehrstellen für arme Dörflerkinder. Die wenigen Ausbildungsplätze schacherten sich die Mitglieder alter Seilschaften untereinander zu, denn die beiden großen Fabriken, ein Chemiewerk und ein Produktionsbetrieb für Elektromotoren, früher die größten Arbeitgeber der Stadt, verfielen mit dem Ende der Ära Ceau¸sescu noch schneller. Wurde doch einmal eine Hilfskraft gesucht, so meldeten sich auf die Stelle zwei Drittel der Einwohner des ganzen Distrikts. Für ein Mädchen blieb nur die Einheirat in eine der wenigen wohlhabenden Familien oder die Auswanderung in den Westen, aber Ersteres gelang armen Schluckern selten, und für Letzteres fehlte den meisten das Reisegeld.
Rodica war ein hübsches Mädchen mit großen strahlenden Augen und pechschwarzem Haar. Für ihre vierzehn Jahre war sie körperlich reifer als andere Mädchen ihres Alters. An einem regnerischen Morgen geschah dann, was Rodica zunächst einmal als ein kleines Wunder ansah. Ein großes schwarzes Auto hielt vor dem winzigen Häuschen der Nanescus. Zwei Männer stiegen aus, gut gekleidet in schwarzen Hosen und schwarzen Lederjacken.
Mutter und Vater tranken mit ihnen in der Küche Schnaps, plauderten und lachten von Zeit zu Zeit ein schrilles, aufgesetztes Lachen. Die Geschwister waren aus dem Haus geschickt worden, nur Rodica nicht, sie sollte im Schlafzimmer warten. Dort saß sie über eine Stunde lang auf dem Bett, das sie mit Ewa teilte, dann kam die Mutter und befahl ihr barsch: »Zieh dein gutes Kleid an und die Schuhe, kämm dein Haar, pack Unterhosen und Hemden ein, aber nur die besseren, und lass deiner Schwester noch was übrig. Du wirst mit Roman Miklos mitgehen. Er ist ein alter Freund von Vater, er hat ein Geschäft und Arbeit für dich. Sei brav und ordentlich, dann wird’s dir gutgehen«, sagte sie. Mehr nicht.
Rodica putzte sich heraus und ging dann brav zum Auto. In ihrer Tragetasche steckten eine Haarbürste, zwei T-Shirts, eine Strickjacke und vier Unterhosen, ihr ganzer Besitz. Bevor sie einstieg, lief sie hastig noch mal ins Haus zurück, sie hatte ihren kleinen Teddybären vergessen.
Roman Miklos gab sich als freundlicher Mann, der andere, der Fahrer, sprach wenig. Sie fuhren den Rest des Tages und in die halbe Nacht hinein, bis sie in Bukarest ankamen. Rodica war noch nie in der Hauptstadt gewesen und kannte sie nur aus Schulbüchern. Und gelegentlich, wenn sie bei Nachbarn fernsehen durfte, hatte sie auch etwas über diese große Stadt gesehen. Herr Miklos besaß eine riesige Wohnung mit vielen Zimmern und einem Salon. Im Badezimmer, das allein schon größer war als das größte Zimmer der Nanescus zu Hause, gab es eine Badewanne, eine Dusche, zwei Waschbecken, eine Toilette und ein niedriges Becken, wie sie es noch nicht gesehen hatte. Aus ihm
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