Engelsberg
zurückgeht bis fast auf die Geburt der Literatur selbst (oder zumindest ihrer ersten Glanzpunkte). Es genügt, daran zu erinnern, dass ebendies in der Antike Aischylos, Sophokles, Euripides und später Shakespeare sowie Racine taten, um nur die überragendsten Autoren aller Zeiten zu erwähnen. Die Großtuerei mit Originalsujets ist – wie schon Jorge Luis Borges treffend bemerkte – Lug und Trug jüngeren Datums. Genauso sahen es Alfonso Reyes mit seiner Grausamen Iphigenie , Virgilio Piñera mit seiner Electra Garrigó oder Mario Vargas Llosa mit dem Krieg am Ende der Welt . Bei derart illustren Vorläufern bedarf also selbst eine so plumpe Dreistigkeit wie die meine keiner größeren Rechtfertigung. Auf jeden Fall glaube ich, wenn wir als Material auf einen bekannten Stoff zurückgreifen, können wir vom Standpunkt der schöpferischen Erfindung aus sehr viel origineller sein, weil wir, anstatt uns um ein spezifisches Sujet sorgen zu müssen, uns frei in das reine Wesen der Fantasie und somit der wahren Schöpfung begeben.
Die Schlüsse , mit denen das Buch endet, sind daher auch nicht unbedingt diejenigen, zu denen Villaverde in seinem Werk gelangt ist. Dennoch glaube ich in seinem wie in meinem Text zu sehen, was das Erbe des Menschengeschlechts ist und was wir als bescheidene Sprachrohre (oder Schriftsteller) widerspiegeln: die unermüdliche Suche nach Erlösung, eine Suche, die trotz immer neuer Niedertracht – oder vielleicht gerade wegen ihr – niemals enden wird.
Reinaldo Arenas
Erster Teil Die Familie
Kapitel 1 Die Mutter
Von ihrem Schlafzimmer aus, dem der ganzen Familie, hört Rosario, neben sich ihre gerade erst geborene Tochter, eine Kalesche vorfahren. Doña Josefa öffnet die Tür, und Rosario lauscht, wie ihre Mutter mit dem Mann spricht, der ihr Liebhaber war, Don Cándido de Gamboa.
»Ich bin gekommen, um die Kleine zu holen.«
»Wohin wollen Sie sie bringen?«
»Ins Waisenhaus. Ich werde mich darum kümmern, dass es ihr an nichts fehlen wird. Aber niemand darf wissen, dass ich ihr Vater bin.«
»Und Rosario?«
»Sie muss verstehen, dass es die einzige Lösung ist. Sie wird ja wohl nicht so verrückt gewesen sein, sich einzubilden, ich würde die Kleine als meine Tochter anerkennen.«
Don Cándido und Josefa betreten jetzt das Schlafzimmer. Sie nehmen den Säugling, der wie widerwillig weint und sofort verstummt.
»Rosario«, sagt Josefa, schon mit dem Enkelkind auf dem Arm in der Tür, »es ist das Beste für alle …«
Rosario sagt nichts. Sie schließt die Augen und scheint zu schlafen. Doch so, mit geschlossenen Augen, kann sie noch besser ihr ganzes Leben überschauen: Enkelin einer Sklavin und eines weißen, unbekannten Mannes; Tochter einer dunkelbraunen Mulattin und eines weißen, unbekannten Mannes; sie selbst Mulattin, Geliebte eines weißen Mannes, der sie nun verlässt, und Mutter eines Mädchens, das ebenfalls nicht wissen wird, wer sein Vater war. Jetzt versteht sie, dass sie nur Gegenstand der Lust des Mannes war, der ihre Tochter mit sich nimmt, und dass Elend, Verachtung und Verlassenheit alles sind, was sie besitzt. Und sie versteht noch mehr, sie versteht, dass in dieser Welt, in der sie lebt (oder wohnt), kein Platz ist für sie, nicht einmal im Vergessen.
Denn sie wird auf die Straße hinaustreten müssen, arbeiten und gerade diejenigen sehen und ihnen dienen müssen, von denen sie verachtet und erniedrigt wird. Heuchlerisch wird sie voller Demut die Hand küssen müssen, die sie lieber abgeschnitten sähe oder selber abschneiden würde.
Jetzt öffnet Rosario die Augen und schaut zu dem kleinen Altar, wo die vom Flammenschwert durchbohrte Muttergottes mit dem Kinde steht.
»Welcher Trost«, fragt sie, oder fragt sie sich, »wird mir helfen können weiterzuleben?«
(Weil das Schlimmste von allem nicht war, dass man ihr die Tochter wegnahm, sondern dass es der Kindesvater selbst war, der sie ihr wegnahm, der Mann, den sie geliebt hatte und immer noch liebte. Und als er es tat, sah er sie, die Mutter, dabei nicht einmal an.)
»Der Wahnsinn, der Wahnsinn«, meinte sie von fern ein besänftigendes, einwiegendes Gurren zu vernehmen, als wäre sie selbst es, die ihren Geliebten oder wenigstens die Frucht dieser Liebe mit ihrem Gurren einwiegte.
»Der Wahnsinn, der Wahnsinn …«, echote jemand mit noch sanfterer, weicherer Stimme.
Und Rosario Alarcón verlor den Verstand.
Kapitel 2 Der Vater
Verrückt, natürlich. Rosario muss völlig verrückt gewesen
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