Engelsblut
wenn ich an Samuels Geburtsort (der gleichen Stätte, wo er auch begraben liege) nach diesem Bild forsche.
Viel mehr Worte machte er nicht, was ich durchaus goutierte. Ich will Samuel Alts letztes Bild finden – schauerliche Geschichten über ihn hören will ich nicht. Denn diese Geschichten (in der Hauptstadt werden sie hinter vorgehaltener Hand gewispert) gehen mich nichts an.
Wenn man von einem Maler verlangt, dass nichts seinen Blick auf die Welt verstelle, so lege ich gleiches Richtmaß für den Kritiker an: Er möge von dem, der Bilder schuf, nicht mehr wissen, als eben, dass er sie erschaffen hat.
Meine These blieb also klar umrissen, mein Vorhaben weiterhin gut geplant, die Fahrt von Wien in die österreichische Provinz (mit Eisenbahn und Postkutsche) war zwar beschwerlich, aber erträglich.
Zaudernd stimmen mich nur der Nieselregen und die Kälte, die mich im Land ob der Enns empfangen (und diese Reise, wiewohl viel kürzer als alle anderen, grauer und düsterer färben). Vergebens halte ich Ausschau nach etwas, das Wärme verspricht, und muss mich schließlich mit dem Gedanken trösten, dass es ein Rechtes sei, auf diese Weise ernüchtert zu werden. Wenn Kunst nicht erhöhen, verzärteln, verwöhnen soll, darf ich dann – auf der Suche nach einem ihrer vortrefflichsten Erzeugnisse – Gemütlichkeit begehren?
Also spaziere ich tapfer und beherzt durch den Schlamm, in dem der Fußweg zwischen Schwanenstadt und dem Gutshof Altenbach-Wolfsberg versinkt, komme durchnässt und frierend an – und erwarte an dem Ort, wo Samuel Alt Kindheit und Jugend verbrachte, letzte Spuren seines Lebens.
Leider gibt es wenig, was mich hoffnungsfroh begrüßt. Nicht nur, dass ich eingeklemmt in ergrautem, fruchtlosem Land stehe – es glotzt mich obendrein ein verschlossenes Portal an, an das ich klopfen und klopfen mag, ohne dass es sich auftut.
Ich stelle fest, dass der Gutshof von Altenbach-Wolfsberg verarmt, verschimmelt und verdreckt ist. Die Wände sind ein grauer Schatten wie die zähe Wolkenwand oder die Kleidung, die auf mir klebt. Fortgeregnet scheint mir mein Mut.
Ich beginne zitternd, an das Portal nicht nur zu klopfen, sondern mit den Fäusten darauf einzuhämmern. Grimm überkommt mich – als sei ein anderer schuld, dass ich hier warten muss.
Doch gerade als ich genug vom Hämmern habe, aufgeben und vom stummen Portal wegtreten will, vernehme ich endlich schleifende Schritte und eine schwerfällige Stimme. Ich hätte es nicht mehr für möglich gehalten – ein alter Mann öffnet mir das Tor, schnauft, starrt mich an und spricht zu mir.
»Doch die Existenz der Engel,
die bezweifelte ich nie;
Lichtgeschöpfe sonder Mängel,
hier auf Erden wandeln sie.«
HEINRICH HEINE
ZWEITER TAG
Es ist zu erzählen, wie Felicitas um ihr Engelchen weint,
Samuel einen abgebrochenen Schneidezahn malt und
Andreas seinen Vetter zu lieben beginnt
Samuel ging ins sechste Jahr, suchte keinen Umgang mit seinesgleichen, aber streunte über den Hof, durch die Gänge und Kammern. Er beäugte die Menschen auf seinen Wegen, fräste sich ihre Züge und Bewegungen ins Gedächtnis und ritzte ihre Gesichter mit einem Holzstäbchen in die Erde.
Vergänglich blieben diese Zeichnungen. Füße trampelten darauf herum, oder Regen nässte sie und spülte sie glatt. Aber er ließ sich dadurch nicht abbringen, sondern begann stets aufs Neue mit seinem Tun.
Eines Tages machte er eine erstaunliche Entdeckung. Er erreichte beim Herumstreunen eine Kammer, in der ein Mann hockte, den man, so erfuhr er später, den »Herrn Schreiber« nannte. Über ein Pult gebeugt saß dieser und schrieb mit weißer Feder und schwarzer Tinte Berechnungen in ein kleines Büchlein, um den Erlös zu bestimmen, den die Züchtung von Pferden einbrachte.
Samuel blieb vor dem schreibenden Mann stehen und starrte ihn so lange an, bis jener den stillen Knaben gewahrte. Er war gutmütig, der Herr Schreiber, wollte ihn nicht verscheuchen, ließ ihn gaffen und lächelte in das misstrauische Gesicht hinein.
»Sieh an«, sagte er mit leisem Spott. »Dich habe ich hier noch nie gesehen, Bub.«
Samuel antwortete nicht.
»Wenn ich nicht irre«, meinte der Herr Schreiber, »bist du Samuel, der Sohn des Grafen.«
Samuel wusste nicht, wessen Sohn er war. Angestrengt blickte er auf das weiße Papier.
Der Schreiber lachte. »Willst wissen, was ich für deinen Vater erledige?«, meinte er aufmunternd, hob seine Feder und tauchte sie nachdrücklich in die Tinte. »Das
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