Engelsblut
ein Holzstäbchen und begann den schwammigen Boden aufzuritzen – formlos zuerst, dann ergaben sich Konturen. Er zog einen Strich, zwei Löcher, einen Bogen und einen Kreis drum herum, bis er der feuchten Erde ein Gesicht geschenkt hatte.
Als Graf Maximilian später kam, gafften die Pächterskinder immer noch auf Samuel hinab. Sein Gewand hatte sich mit dem Kehricht voll gesogen; rote Backen hatte er nicht bekommen.
»Herrgott!«, kreischte der Graf, zertrampelte die Gesichter, die Samuel in den Boden gestanzt hatte, fluchte auf das seltsame Kind und schleppte das leblose Bündel wieder hinauf ins Zimmer. Felicitas schrie er an, sie möge den Jungen mit seinesgleichen zusammenbringen, auf dass er endlich zu schwatzen lerne. Wenn sie das nicht zustande brächte, so würde er sich eine bessere Aufseherin für den Kleinen suchen, und was dann mit ihr, Felicitas, geschehe, könne er nicht mit Bestimmtheit sagen.
Als er gegangen war, fing Felicitas an zu heulen, vergaß ihre Scheu vor dem Kinde, das nicht das ihrige war, und neigte sich ihm zum ersten Mal zu, um es zu umarmen und sich an seinen kleinen, warmen Körper zu schmiegen. Samuel versteifte sich. Auf ihrer Haut waren die Spuren von des Grafen Händen, und aus ihrer Scham tropfte sein Samen. Er begann zu strampeln, zu kratzen und wild um sich zu schlagen. Er riss sie an den Haaren und traf ihr Auge, das am nächsten Morgen blau werden würde. Erschrocken wich sie zurück. Kaum dass sie ihn losließ, verlor er jede Kraft und sank zu Boden. Während er da hockte, kreisten seine Finger auf dem kalten Stein und versuchten, ihm die Form von Felicitas’ entsetztem Gesicht zu geben.
Erst danach wollte er sich von ihr berühren lassen. Doch jetzt war sie nicht mehr bereit, es zu tun.
Mein Name ist Moritz Schlossberg, und ich bin Kunstkritiker aus Wien.
Lange bevor ich mich von einer halbnackten, alternden Frau gefangen nehmen lasse, ich bei ihrem Anblick vergesse, wer ich bin, und – ihr nachgebend – während vieler Tage ihrer Geschichte lausche, trieb mich nur ein Ziel in die Heimat des Samuel Alt: Ich wollte sein letztes, geheimnisvolles Bild finden und daran meine These belegen, wonach, wer liebt, ein Lügender sei, und ergo ein wahrhaftiger Maler nur sein könne, wer nicht liebe.
Ich bin (oder war) kein Feind der Liebe, aber ein Feind der Kunst, welche erlaubt, ihr Objekt durch Gefühle zu fälschen. Wer liebt, verzehrt, verstellt, verbiegt. Ich hingegen meine: Die Kunst ist der Realität verpflichtet, und der Künstler möge sich nicht in diese Realität verstricken, sondern gleichsam ein Auge sein, durch das die ganze Menschheit auf diese Realität blickt.
Dass Samuel Alt ein solches Auge war, lese ich den wenigen erhaltenen Werken von ihm ab. Gleiches wird auch seinem letzten Bild nachgesagt, das kurz vor seinem rätselhaften Tod entstand und nach dem ich seit vielen Monaten verbissen suche. Wiewohl es kaum jemand zu Gesicht bekommen hat, geht raunend das Gerücht, es sei das wahrhaftigste aller möglichen Bilder.
Ich schenkte diesem Gerücht Glauben und nahm lange Reisen auf mich, um nach dem Bild zu fahnden und mit Menschen zu sprechen, die Samuel Alt gekannt haben. Bis nach Frankfurt bin ich gekommen, in dessen Umgebung er manche fahre seines Lebens zugebracht hatte. Dort wusste man zwar nichts von diesem letzten Werk, verwies mich aber an einen gewissen Bartholomé Vernez, der ein Schüler Samuels Alts gewesen war und lange Zeit an seiner Seite gelebt hatte. Bei unserer Begegnung sprach jener anfangs freundlich zu mir und schwelgte in Erinnerungen. Kaum aber erwähnte ich das letzte Gemälde, riss er entsetzt die Augen auf.
»Gütiger Himmel!«, stieß er aus. »Sprecht nicht davon! Keiner darf wissen, dass es dieses Bild je gegeben hat!«
Wiewohl meine Neugierde angestachelt war und ich lange Wochen voller Fragen bei ihm weilte, war nichts Weiteres von ihm zu erfahren. Unverrichteter Dinge musste ich weiterziehen – diesmal in ein Fischerdorf an der italienischen Küste, wo ein Mann wohnt, der einst als Kunsthändler Samuels Namen groß gemacht hat.
Er erschien mir weniger verstört, jedoch gleichfalls verschwiegen. Ja, sagte er, als ich von Samuel Alts letztem Bild sprach, ja, dieses gäbe es; und ja, auf diesem Bild sei etwas zu sehen, worüber sich nicht sprechen ließe und wie es bislang noch nie gemalt worden sei. Er selbst könne jedoch nur erahnen, wo es sich finden ließe. Am besten sei – dies wäre das Einzige, was er empfehle –,
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