Engelslicht
machte eine Kopfbewegung zu Callie, um von Luces Dankbarkeit abzulenken. »Sie war diejenige mit den Engelszungen. Bedank dich bei ihr.« Sie streckte ein Bein durch das offene Fenster und drehte sich um: »Denkt ihr, ihr kommt jetzt alleine klar? Ich muss an einem Gipfeltreffen im Waffle House teilnehmen.«
Luce reckte den Daumen hoch und ließ sich auf ihr Bett fallen.
»Oh, Luce«, flüsterte Callie. »Als du weg warst, war euer ganzer Garten mit grauem Staub bedeckt. Und dieses blonde Mädchen, Gabbe, hat nur einmal die Hand bewegt und alles war verschwunden. Dann haben wir gesagt, du seist krank, dass alle anderen nach Hause gegangen seien, und wir haben einfach angefangen, mit deinen Eltern den Abwasch zu machen. Und zuerst dachte ich, diese Molly sei ein bisschen schrecklich, aber in Wirklichkeit ist sie irgendwie cool.« Ihre Augen wurden schmal. »Aber wo warst du? Was ist mit dir passiert? Du hast mir wirklich einen Schrecken eingejagt, Luce.«
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, sagte Luce.
Ein Klopfen erklang, gefolgt von dem vertrauten Knarren ihrer sich öffnenden Zimmertür.
Luces Mutter stand im Flur, das vom Schlaf zerzauste Haar von einer gelben Bananenspange gezähmt, das Gesicht ungeschminkt und hübsch. Sie hielt ein Basttablett mit zwei Gläsern Orangensaft, zwei Tellern mit gebuttertem Toast und einer Schachtel Alka-Seltzer. »Sieht so aus, als würde sich da jemand besser fühlen.«
Luce wartete, bis ihre Mom das Tablett auf den Nachttisch gestellt hatte, dann schlang sie die Arme um ihre Mutter und vergrub das Gesicht in ihrem rosafarbenen Frotteebademantel. Tränen brannten ihr in den Augen. Sie schniefte.
»Mein kleines Mädchen«, sagte ihre Mom und fühlte Luce die Stirn und die Wangen, um festzustellen, ob sie Fieber hatte. Seit Ewigkeiten hatte sie nicht mehr mit dieser sanften Stimme zu Luce gesprochen, und jetzt tat es gut, sie zu hören.
»Ich habe dich lieb, Mom.«
»Erzähl mir nicht, dass sie zu krank für Black Friday ist.« Luces Vater erschien in der Tür, eine grüne Plastikgießkanne in der Hand. Er lächelte, aber hinter seiner randlosen Brille wirkten Mr Price’ Augen besorgt.
»Es geht mir besser«, erklärte Luce. »Aber …«
»Oh, Harry«, sagte Luces Mom. »Du weißt, dass wir sie nur für den einen Tag hier hatten. Sie muss zurück in die Schule.« Sie wandte sich an Luce. »Daniel hat vor einer Weile angerufen, Liebes. Er sagte, er könne dich abholen und in die Sword & Cross zurückbringen. Ich habe gesagt, dass dein Vater und ich dich natürlich gerne fahren würden, aber …«
»Nein«, unterbrach Luce sie schnell und dachte an den Plan, den Daniel im Wagen erklärt hatte. »Auch wenn ich nicht mitgehen kann, solltet ihr beiden trotzdem eure Black Friday Einkäufe machen. Es ist eine Price’sche Familientradition.«
Sie einigten sich darauf, dass Luce mit Daniel fahren sollte und ihre Eltern Callie zum Flughafen bringen würden. Während die Mädchen aßen, hockten Luces Eltern auf der Bettkante und sprachen über Thanksgiving (»Gabbe hat das ganze Porzellan poliert – was für ein Engel«). Als sie zu den Black Friday Schnäppchen kamen, auf die sie Jagd machen wollten (»Dein Vater will immer nur Werkzeug«), wurde Luce bewusst, dass sie nichts gesagt hatte außer idiotischen Rückmeldungen wie »Mhm« und »Ach wirklich?«.
Als ihre Eltern endlich aufstanden, um die Teller in die Küche zu bringen, und Callie zu packen begann, ging Luce ins Badezimmer und schloss die Tür.
Es kam ihr so vor, als sei sie das erste Mal seit einer Million Jahren allein. Sie setzte sich auf den Schminkhocker und schaute in den Spiegel.
Sie war sie selbst, aber anders. Sicher, Lucinda Price blickte ihr entgegen. Aber auch …
Da war Layla mit ihren vollen Lippen, Lulu mit dem dicken gewellten Haar, Lu Xin mit ihren intensiven haselnussbraunen Augen, Lucia mit ihrem Funkeln. Sie war nicht allein. Vielleicht würde sie nie wieder allein sein. Aus dem Spiegel blickte sie eine jede ihrer Inkarnationen an und fragte sich: Was soll aus mir werden? Was ist mit meiner Geschichte und meiner Liebe?
Sie duschte und zog saubere Jeans an, ihre schwarzen Reitstiefel und einen langen weißen Pullover. Dann setzte sie sich auf Callies Koffer, während ihre Freundin mit dem Reißverschluss kämpfte. Das Schweigen zwischen ihnen lastete schwer.
»Callie, du bist meine beste Freundin«, sagte Luce schließlich. »Ich mache etwas durch, was ich nicht verstehe. Aber es hat
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