Entfesselt
Schwester sollte sie nicht dulden. Ich bin gekommen, um herauszufinden, was sie weiß.«
Ich versuchte, hastig zu schlucken, um keine Krümel über den ganzen Tisch zu spucken. Es fühlte sich an, als würde ich eine Glasmurmel hinunterwürgen, langsam und schmerzhaft. Dann zwang ich mich aufzuschauen, statt unter den Tisch zu kriechen, was mein erster Instinkt gewesen war. River wirkte gereizt, auch wenn sie sich offensichtlich bemühte, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Die anderen sahen verblüfft und sogar schockiert aus. Ich konzentrierte mich darauf, normal zu atmen, und sah zu Reyn hinüber. Seine offenkundige Wut und die Anspannung seiner Schultern gefielen mir im ersten Moment richtig gut, weil ich dachte, dass sie Ottavio galten, der es gewagt hatte, mich anzugreifen. Doch dann überfiel mich der unangenehme Gedanke, dass er vielleicht immer noch wütend auf mich war.
Dazu kam noch, dass ein paar der anderen tatsächlich zustimmend nickten, wie ich bei einem schnellen Rundblick feststellen musste - Jess, Charles und sogar Solis, von dem ich so viel gelernt hatte.
Das Blut schoss mir in die Wangen und ich wäre am liebsten im Erdboden versunken.
»Ich war zu Hause, in Italien«, fuhr Ottavio fort. Seine schwarzen Augen schienen sich förmlich in meinen Schädel zu bohren, während seine langen Finger ein Stück Brot zerrupften. »Dort habe ich von großer, gefährlicher Magie gehört - Terávà- Magie - hier in Amerika. In Boston. Und wegen der Nähe zu meiner Schwester habe ich weitere Informationen eingeholt.« Ich nickte. Richtig. Große, böse Magie. Das traf es ganz genau. Es war sogar so böse gewesen, dass ich nicht einmal darüber witzeln konnte. Nicht nach einem Monat. Nicht nach hundert Jahren. »Ich habe keine dunkle Magie angewandt«, sagte ich.
»Nein. Aber du standest in Kontakt mit der Person, die es getan hat.« Ottavio ließ das Brot auf seinen Teller fallen, als wäre ihm erst jetzt bewusst geworden, was er da tat.
»Aber jetzt nicht mehr«, sagte ich, obwohl mir natürlich klar war, wie lahm sich das anhörte.
Ottavio schnaubte verächtlich.
Ja, ich hatte Mist gebaut - nicht nur einmal, sondern immer und immer wieder. So ist das eben mit Rehamenschen. Bei Incy zu sein, als er seine zerstörerische Magie ausgeübt und zwei unserer Freunde vor meinen Augen getötet hatte, war eine Tragödie gewesen. Aber ich hatte ihn nicht dazu gebracht. Ich war nicht schuld an seinem Wahnsinn. Es stand ganz unten auf meiner langen Liste »Dinge, auf die ich keinen Einfluss hatte«. Wie zum Beispiel in meine Familie geboren zu werden. Wie die einzige Überlebende zu sein, in dieser Nacht, in der alle anderen - meine Eltern, meine Schwestern, meine Brüder - von den Winterschlächtern getötet wurden, weil sie die magischen Kräfte unseres Hauses an sich reißen wollten.
Ottavios schwarze Augen durchbohrten mich. »Wieso bist du hier? In was willst du meine Schwester hineinziehen? Wer - wenn überhaupt - hat dich hergeschickt und zu welchem dunklen Zweck?«
Ich starrte ihn fassungslos an - in totaler Schockstarre. Das konnte nicht sein Ernst sein. Ich überlegte, wie ich ihm die Sache mit Incy und unserer jahrhundertelangen Freundschaft erklären sollte. Wie konnte ich ihm nur klarmachen, wie verloren ich mich gefühlt hatte, wie unzulänglich, in dieser Nacht, in der ich geflohen war? Wusste er, dass mich Incy bereits einen Monat lang verhext hatte, damit ich endlich zusammenbrach und River's Edge verließ? Ich war kurz davor durchzudrehen: Alle sahen mich an. Würde River verlangen, dass ich ging?
Zählten meine Fortschritte nicht mehr? Vielleicht konnte ich unter vier Augen mit ihr reden - Moment mal. Moment. Mal. Ich war nicht mehr zehn Jahre alt. Er war nicht mein Vater. Er war auch nicht mein Lehrer oder mein Onkel. Er war nicht die Tähti-Polizei. Was sollte er schon tun? Mir Stubenarrest geben?
Nicht so hastig, Nastasja, warnte mein Gehirn. Tu nichts Unüberlegtes. Das ist Rivers Bruder.
»Was glaubst du eigentlich, wer du bist?«, rief ich und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Ottavios Augen weiteten sich und Charles zuckte sogar zusammen. Ich stand auf und schob meinen Teller weg. »Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig. Dies ist Rivers Haus. Und sie will mich anscheinend immer noch hierhaben.« Ich runzelte die Stirn. »Willst du damit sagen, dass du ihrem Urteil nicht traust?«
River blinzelte verblüfft und Ottavio
Weitere Kostenlose Bücher