Entscheidung auf Mallorca
getötet!« schrie er jäh wie von Sinnen und machte den Versuch, sich aufzurichten.
Der Arzt hielt ihn zurück. »Sie müssen ruhig liegenbleiben. Sie haben nicht die geringste Schuld. Der Lastwagen …«
»Nein!« schrie Wulf. »Ich hatte getrunken.«
Der Arzt horchte auf. »Ist das wahr?«
»Ja!«
»Das ist … Das ist allerdings schlecht. Wir haben, wie immer in solchen Fällen, von allen Beteiligten eine Blutprobe zu nehmen. So auch von Ihnen. Aber es ändert nichts an der Tatsache, daß Sie schuldlos sind. Die Polizei sagte …«
»Hören Sie auf!« unterbrach ihn Wulf. »Mich interessiert nicht, was die Polizei sagt. Ich hatte getrunken!«
In den nächsten Wochen und Monaten war Wulf nicht wiederzuerkennen. Er sprach nur wenig und ging allen aus dem Weg. Vergeblich machten seine Eltern den Versuch, ihn nach Hause zu holen, vergeblich bemühten sich Miriam und Harald um ihn. Keine drei Sätze waren aus ihm herauszuholen.
Bis der Tag kam, an dem der Unfall sein gerichtliches Nachspiel erfuhr. Wenn sich der Staatsanwalt auch darüber im klaren war, daß Wulf den Zusammenprall des Wagens nicht herbeigeführt hatte, so sah er sich auf Grund des Ergebnisses der Blutuntersuchung doch gezwungen, Strafantrag zu stellen.
»Die Sache ist nicht so tragisch, wie sie aussieht«, hatte der Verteidiger zu Wulfs Vater gesagt. »Machen Sie sich keine Sorgen. Überlassen Sie nur alles mir.«
Um so entsetzter war Wulfs Vater, als der Staatsanwalt nach einer scharf gehaltenen Anklagerede eine Gefängnisstrafe von neun Monaten forderte.
»Das ist nicht zu glauben«, schnaubte er mit hochrotem Kopf. »Was kann der Junge dafür, daß der Lastwagen …«
»Nicht so laut«, flüsterte Wulfs Mutter, eine elegant gekleidete Dame, die unentwegt zu ihrem Sohn hinüberblickte, der blaß und ausdruckslos auf der Anklagebank saß.
»Der Herr Verteidiger hat das Wort«, sagte der Vorsitzende.
Miriam, die mit Harald auf der hintersten Zuhörerbank Platz genommen hatte, machte einen verzweifelten Eindruck. »Hättest du das für möglich gehalten?« fragte sie. »Neun Monate!«
Harald versuchte, sie zu beruhigen. »Das will noch nichts besagen. Jetzt kommt erst mal sein Anwalt an die Reihe. Und dann hat Wulf das Schlußwort.«
»Davon verspreche ich mir nicht viel.«
Eine Viertelstunde später sah es ganz danach aus, als sollte Miriam recht behalten. Denn als der Verteidiger geendet hatte und Wulf das Wort erteilt wurde, erhob er sich und sagte mit müder Stimme: »Herr Amtsgerichtsrat. Mein Anwalt hat es für richtig gehalten, neben den rein sachlichen Ausführungen, denen ich mich anschließe, am Schluß seines Plädoyers an Ihr Mitgefühl zu appellieren. Er wies darauf hin, daß ich die Verunglückte sehr geliebt habe und sie in Kürze hätte heiraten wollen, und er stellte unter anderem die Frage: ›Ist der Angeklagte durch den Verlust, den er erlitten hat, nicht schon genügend gestraft?‹ Dazu muß ich erklären: Nein!«
Wulfs Eltern fuhren zusammen.
Der Verteidiger sprang auf. »Schweigen Sie!«
Miriam griff nach Haralds Hand.
Der Gerichtssaal glich einem brodelnden Kessel.
Wulf schaute seinen Anwalt an. »Warum soll ich schweigen?«
»Sie wissen offensichtlich nicht …«
»Lassen Sie das meine Sorge sein«, unterbrach ihn Wulf. »Ich weiß sehr genau, was ich sage.«
»Ich bitte um Ruhe!« forderte der Vorsitzende die erregt tuschelnden Zuhörer auf. Dann wandte er sich an Wulf. »Ich mache darauf aufmerksam, daß alles, was Sie hier aussagen, bei der Urteilsfindung gegen Sie verwertet werden kann.«
Wulf nickte.
Der Verteidiger warf Wulfs Vater einen ratlosen Blick zu und hob die Schultern.
»Ich habe erklärt, daß ich mich durch den Verlust meiner Freundin nicht genügend bestraft fühle«, fuhr Wulf tonlos fort. »Das mag übertrieben klingen. Und doch: Selbst wenn ich den zur Debatte stehenden Unfall nicht verschuldet habe – und das ist erwiesen, da ich mich auf der richtigen Fahrbahn befand, der Lastkraftwagen hingegen auf der falschen –, dann bin ich durch den erlittenen Verlust bei weitem noch nicht genügend bestraft. Denn ich bin mitschuldig am Tod dreier Menschen, die im Herbst letzten Jahres vor der Insel Mallorca getötet wurden, und ich möchte noch heute ein volles Geständnis ablegen. Bis jetzt war ich zu feige dazu. Ich kann die Last nun aber nicht mehr tragen.«
Der Richter, die Beisitzer, der Verteidiger, die Eltern und alle im Gerichtssaal Anwesenden starrten wie gebannt auf
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