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Epicordia

Epicordia

Titel: Epicordia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Corzilius
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die meisten
Schlüssel, die einen nach Ravinia brachten, seinen Benutzer scheinbar wahllos
in irgendeiner Gasse absetzten. Sie waren quasi Fließbandarbeit aus der Zeit,
als Ravinia gerade entdeckt worden war und der Wunsch, die Stadt zu betreten,
Hochkonjunktur gehabt hatte. Düstergolden. Wer hatte sich diese Beschreibung einmal ausgedacht? Egal, sie traf den Kern der
Sache und so waren die meisten Schlüssel, die nach Ravinia führten,
düstergoldene Stücke. Erst ein Mal hatte Lara eine Ausnahme gesehen, einen mit
Grünspan übersäten Kupferschlüssel.
    Phantasie und Wahrnehmung waren die wichtigsten
Werkzeuge des Schlüsselmachers. Es war Lara anfangs schwergefallen, ihre
Gedanken zu kanalisieren. Sie hatte Dutzende von Schlüsseln angefertigt und
kein einziger hatte an einen Ort geführt, der eigentlich gar nicht hinter der
Tür hätte liegen dürfen, die man mit ihm aufschloss. Immer verbissener hatte
sie es versucht, und Tom hatte sie einfach machen lassen, hatte ihr geduldig
erklärt und gezeigt, was sie verbessern konnte, wie man dieses und jenes
anstellte oder verarbeitete und hatte ihr Bücher zu lesen gegeben. Sartre, Wittgenstein,
Aristoteles, aber auch Poe, Hemingway oder gar Gaiman. Sie sollte lernen, mehr
und mehr ihren Geist zum Schaffen zu gebrauchen, denn die Möglichkeiten des
menschlichen Geistes waren unendlich.
    Und schließlich war er gekommen, der Moment des Wandels,
der Augenblick, die Erfüllung.
    Sie konnte sich noch genau erinnern, wie sie eine CD eingelegt hatte, auf der Yann Tiersen zusammen mit
einem großen Orchester spielte. Da war sie gewesen, die düstergoldene Musik,
die ihre Gedankenwelt durchströmt hatte. Sie hatte einen Rohling genommen, den
sie schon vor einiger Zeit angefertigt hatte und der jetzt und in diesem
Augenblick tatsächlich zu dem werden konnte, wozu sie ihn bestimmt hatte: ihrem
persönlichen Schlüssel nach Ravinia.
    Sie hatte kunstvoll einen winzigen Rabenflügel aus
Hämatit geschliffen und ihn in die Mitte der Reide gesetzt. Unter diesen hatte
sie in geschwungenen Lettern Ravinia graviert und von
dem Schriftzug aus haarfeine Linien aus Graugold über den Schlüsselbart laufen
und sich zu dessen Spitze hin verflechten lassen. Zum Schluss hatte sie eine
Umrandung aus Prinzessmetall angefertigt und die Reide darin gefasst.
    Als sie fertig gewesen war, war der Nachmittag zum
größten Teil herum gewesen. Das Doppelalbum von Yann Tiersen war beinahe zweimal
durchgelaufen.
    Doch Lara würde niemals den Moment vergessen, in dem
sie mit dem neuen Schlüssel probehalber die Hintertür des Ladens geöffnet hatte
– und dahinter tatsächlich die düstergoldene Rabenstadt gelegen hatte. Staunend
und mit Herzrasen war sie hindurchgetreten und hatte zu ihrer übergroßen Freude
auch noch feststellen müssen, dass sie soeben aus der Haustür des Häuschens in
der Gobelingasse gekommen war, das einst ihren Eltern gehört hatte.
    Tom hatte sich über die
Maßen mit ihr gefreut – jedoch war ihm im Laufe des Abends doch das ein oder
andere Augenrollen anzusehen gewesen, nachdem Lara über Stunden hinweg mit einem verklärten Grinsen durch die
Wohnung gelaufen war.

    Schließlich hatte Tom ihr ihren ersten
Schlüssel nach Ravinia weggenommen, den er ihr vor Monaten gegeben hatte.
Daraufhin hatte sich für einen kurzen Augenblick Empörung auf das Gesicht
seiner Schülerin gelegt, bis er ihr erklärt hatte, sie benötige die Leihgabe ja
nun nicht mehr.
    Â»Stimmt«, hatte sie daraufhin geflötet und war in
ihrem Zimmer verschwunden.

    Nun war sie also eine Schlüsselmacherin.
    Wann sie ihre Gesellenprüfung ablegen würde, wusste
sie noch nicht genau, aber sie schätzte, dass es nicht mehr viel länger als ein
Jahr dauern sollte, bis sie so weit war, sich dem Schiedsgericht des Stadtrates
zu stellen. Und dann – ja dann würde sie vermutlich weiter bei Tom arbeiten. So
lange, bis sie gut genug war, ein Meisterstück anfertigen zu können. Und eines
wusste Lara jetzt schon: Sie würde die hohen Herren von Ravinia mit ihrem
Können hinwegfegen. Das war ihr Ziel: nicht mehr und nicht weniger, als die
beste Schlüsselmacherin der Welt zu werden.
    Doch wie die meisten Tagträume endete auch dieser sehr
bald wieder. Grund dafür war ein leises, beharrliches Klacken, das Lara zuerst
in die Straßengeräusche draußen vor

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