Er war ein Mann Gottes
mir dann allerdings nie schrieb, Telefonkarten und Füllerpatronen hätte er gern Süßigkeiten gehabt. Zwar würde er davon noch fetter werden. »Aber das macht nichts. Ich liebe mich trotzdem. Innen bin ich nämlich viel schöner als außen. Zu dumm, dass ich die Seiten nicht tauschen kann.«
Ich begann über Max und seine Selbstliebe nachzudenken, die er nicht auf mich übertragen konnte, weil sie sein alleiniger »heiliger Gral« war. Seine Leidenschaft für Selbstporträts fiel mir auf. Max liegend, sitzend, stehend, lächelnd oder melancholisch, Max vor der Blumenwiese, auf dem Sofa oder im Kabrio. Gab es eine Situation, in der er sich nicht fotografierte? Ja, Max zerzaust im Bett, das gab es nicht.
Ich begriff, dass seine ganze geschniegelte, gestriegelte, wie mit Katzenzungen geschleckte Erscheinung, an der kein Kopfhaar außerhalb der Ordnung zu liegen hatte, nur ein Zeichen seiner Eitelkeit war. Dazu gehörte auch sein ewiges Heischen um Komplimente über seine angeblich zu dicke Figur, seine zu wurstigen Finger, seine zu platten Plattfüße, seine elefantös abstehenden Ohren, seine krumme Hakennase, seine eklige Plombe auf dem Schneidezahn.
Selbst wenn er mit mir sprach, setzte er sich am liebsten so, dass er einem Spiegel oder einer Schaufensterscheibe gegenübersaß, um wie mit sich selbst zu sprechen, zu lächeln, zu flirten.
Aber war es wirklich bloß Eitelkeit? Verriet sich in dieser permanenten Selbstbespiegelung und Selbstdarstellung nicht ein extremer Drang zur Selbstkontrolle, ja, zum Perfektionismus? Ertrug Max es nicht, dass er ein ganz normaler Mann mit ganz normaler menschlicher Sexualität war und dies nicht mehr zu seinem perfekten Image des gottberufenen Übermenschen passte? War er permanent damit befasst, Äußeres und Inneres seiner Persönlichkeit deckungsgleich schön, tadellos stimmig übereinanderzufalten? Ähnlich perfekt wie die gleichmäßigen Papierfalten seines Seelenhauses, das er mir einmal als Therapiegemälde geschickt hatte? Wagte Max sich nur deshalb nicht aus dem Gefängnis seines »heiligen Grals« heraus, weil er Angst vor dem echten Leben mit all seinen Unvollkommenheiten hatte? Fürchtete er sich vor dem Chaos der Gefühle, weil er die überschaubare, von ihm stets beherrschte Ordnung brauchte?
Fragen über Fragen und keine Antworten.
»Tief im Innern ist jeder ein freier Mensch, und wäre er auch im Knast«, hatte Max mir anvertraut und mir zugleich geschrieben, das Schlimmste sei für ihn, wenn er die Kontrolle über eine Situation verliere und irgendwie mitgerissen werde.
Fürchtete er sich, die ihn einengenden, unfrei machenden Mauern zu durchbrechen, weil er ihren Schutz brauchte, um sich in der Tiefe seiner Seele, innerhalb seines unantastbaren »heiligen Geheimnisses« frei zu fühlen?
Schrak er deshalb vor der mitreißenden, unkontrollierbaren, unbeherrschbaren Macht der Liebe und deshalb auch vor der leidenschaftlichen Liebe mit einer Frau zurück? Als ich zärtlich auf ihn zuging, ihn zu umarmen, streicheln, zu küssen versuchte, war er in den ersten zwei Urlaubstagen darauf eingegangen. Nach unserer ersten gemeinsamen Nacht aber wich er meinen Verführungsversuchen aus und wies mich ab. Warum?
Ich sei zu hastig, zu schnell, zu ungeduldig mit ihm, hatte er gesagt.
Wie aber, wenn er nur die in ihm unter meinen Berührungen und Küssen aufsteigende Leidenschaft nicht ertragen konnte? Wenn er sich davor fürchtete, dass wieder diese unkontrollierbare Macht aus der Mitte seines Körpers aufquellen und die ihn schützenden Mauern aus Verboten, Selbstbespiegelungen und Kontrollen aufbrechen würde?
Max war weit über vierzig, als wir uns in Tunesien liebten und er zum ersten Mal einen leidenschaftlichen Orgasmus mit einer Frau erlebte. Dieses Gefühl hatte ihn so erschreckt, dass er mir sagte, es lieber mit einem Mann ausprobieren zu wollen.
Ich hatte seine Reaktion nicht verstanden. Jetzt dachte ich darüber nach, ob er Sex mit kleinen Jungs bevorzugte, weil er während des sexuellen Missbrauchs die Selbstkontrolle und die Situationskontrolle nicht in dem Maße wie mit mir verloren hatte?
Früher hatte Max mich in seinen Briefen gefragt, ob ich wüsste, worauf ich mich mit ihm eingelassen hätte. Allmählich begann ich mich dies selbst zu fragen.
Vorbei
Das Ende unseres Urlaubs war Traum und Albtraum zugleich. Angst wollte sich immer wieder in mir breitmachen, dass Max sein Zeitbudget für mich mit diesen Wochen ausgeschöpft hätte und mich
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