Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
1
Im Terrain-Gebirge
A eriel presste den großen Korb gegen ihre Hüfte und zupfte ihre Tunika zurecht. Durch den steilen Anstieg, den sie und ihre Gefährtin die letzten sechshundert Schritte bewältigen mussten, hatte sich der locker fallende Stoff verdreht.
»Ich muss rasten«, sagte sie schwach und ließ sich, ohne die Antwort ihrer Gefährtin abzuwarten, neben ihren leeren Korb auf dem verwitterten grauen Felsgestein nieder.
Hier oben, in der dünnen Luft, war es spürbar kalt. Wärme spendete allein der Sonnenstern, der in sechs Stunden untergehen würde. Sein weißes Licht traf sie vom östlichen Horizont und wärmte Arme, Hals, Gesicht und auch die Felsenplatte, auf der sie saß.
Aeriels Blick schweifte über die weite Ebene von Avaric: makellos wie eine schimmernde Perle lag sie da unter dem magischen Funkeln des dunklen gestirnten Himmels. Oceanus hing wie ein einziger Wirbel aus Blau und Weiß fast senkrecht über ihr. Zur Rechten konnte sie unten ihr Dorf erkennen: winzig duckte es sich am Fuß der Berge und am Rand der steppenartigen Ebene.
»Komm, wir müssen weiter!«, sagte Eoduin und stupste Aeriel mit dem großen Zeh. »Wir haben noch ein gutes Stück Weg vor uns.«
Aeriel seufzte, stand auf und folgte ihrer Gefährtin. Eoduin war groß und schlank, wie es sich für ein Mädchen von vornehmer Abstammung geziemte. Schließlich war sie die Tochter des Dorfältesten und ihre Mutter eine Halbschwester des Statthalters.
Ihre ganze Haltung, dachte Aeriel wehmütig, drückte jenes grenzenlose Selbstverständnis und diese anmutige Selbstsicherheit aus, die typisch war für die Angehörigen eines der vornehmsten Häuser des Dorfes. Sie nannte sechzehn verschiedene Tuniken ihr Eigen – man bedenke, sechzehn! –, während Aeriel nur zwei besaß. Und zahllose Bedienstete standen immer zu ihrer Verfügung.
Eine davon war Aeriel. Sie betrachtete sehnsüchtig das Haar ihrer hochwohlgeborenen Herrin: Es war schwarz wie der Himmel über ihnen, mit jenem blauen Schimmer der Strahlen des Erdenlichts. Eoduins bläulich weiße Haut hatte einen durchscheinenden Glanz, der selbst im Zwielicht unvermindert leuchtete. Aeriel hingegen, die einen Kopf kleiner war, besaß noch kindliche Formen und eine dunklere Haut, deren glanzloses Rotbraun selbst stärkste Sonnenkrautbleiche nicht aufhellte. Ihr Haar, dünner und feiner als das Eoduins, war silbrig gelb, schön bei Tages- oder Lampenlicht anzusehen, doch bei Erdenlicht nahm es den scheußlich grünlichen Schimmer unreifer Feigen an.
Aeriel seufzte und stolperte hinter Eoduin den Hang hinauf. Dabei bewunderte sie deren leichtfüßigen Schritt und beneidete sie um die Mühelosigkeit, mit der die Tochter des Dorfältesten
ihren Korb lässig auf dem Rücken trug. Niemals würde sie die stolze Anmut ihrer Herrin erreichen.
Nach weiteren hundert Schritten bemerkte Aeriel: »Wir sind schon schrecklich weit oben.«
Ohne sich umzudrehen, antwortete Eoduin: »Wir haben den Gipfel bald erreicht.«
»Ich kann das Dorf nicht mehr sehen«, sagte Aeriel. Und das stimmte. Die beiden hatten einen Bogen geschlagen und die Bergflanke linker Hand liegen gelassen.
Eoduin lachte. »Wovor hast du nur Angst?«, fragte sie vergnügt mit einem spöttischen Ausdruck in ihren saphirklaren Augen. »Etwa vor den Engeln der Nacht?« Sie wartete, bis Aeriel neben ihr stand. »Du glaubst wohl an das alte Ammenmärchen, das uns Bomba immer erzählt?«
Aeriel dachte an die seltsamen, teils verrückten, teils erregenden Geschichten, die die Greisin so manches Mal ihren jungen Schützlingen am Spinnrocken erzählt hatte. Erst ein paar Stunden vor Aeriels und Eoduins Aufbruch zur Blütenlese der Hochzeitsblumen hatte sie eine dieser Geschichten zum Besten gegeben. Es sollte wohl eine Warnung sein, vermutete Aeriel, doch war diese Geschichte derart wirr gewesen, dass sie eher kindisch als bedrohlich wirkte.
Eoduin ließ ihren Korb zu Boden fallen. Sie krümmte die Schultern und schnitt eine Grimasse, so dass ihr Gesicht dem der alten Aufseherin glich. »Die Gespenster«, zischte sie wie die zahnlose Alte, »die Gespenster, die durch die Berge geistern, die nach Menschen haschen und Erdrutsche verursachen. Glaube mir …«
Sie fuchtelte mit klauenartig gekrümmtem Zeigefinger vor Aeriels Nase herum.
»Glaube mir, Mädchen. Ich habe sie gesehen. Geh nicht hinauf in die Berge, oder du wirst es bereuen, falls du dazu noch in der Lage sein solltest.« Aeriel biss sich auf die Lippen, um ein
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