Elsas Küche: Roman (German Edition)
I
E lsa wachte auf und war allein. Allein und verzweifelt darüber. Sie war verzweifelt, weil sie, obwohl nicht verliebt, sich doch daran gewöhnt hatte, ihr Bett nachts zu teilen; so zu erwachen – in einem kratzigen Schlafanzug und auf dem Rücken liegend –, die öde stuckverzierte Zimmerdecke zu erblicken, statt hinter sich die haarige Lendenpartie ihres Liebhabers zu spüren und statt seines schweren Atems an ihrem Ohr und den Essensdüften aus ihrer Küche die morgendlichen Geräusche der Stadtbusse und Straßenbahnen in ihrer Wohnung wahrzunehmen – all dies weckte in Elsa den kurzen, heftigen Wunsch, gar nicht erst aufgewacht, sondern gnädig in tiefen Schlummer, vielleicht auch in ein Koma entglitten zu sein, oder wenigstens in einen Traum.
Dass sie am Morgen als Erstes auf solch einen Gedanken kam, war abscheulich, änderte aber nichts. Nach einem langen Tag im Restaurant entspannte sie Besuch um Mitternacht: ein Bad nach der Arbeit, ein Glas Wein, eine Fußmassage als unabdingbares Vorspiel. Und schließlich Hingabe ohne Reue. Dazu bedurfte es bei Elsa keiner großen Überredungskünste: die Fußmassage und ein gewisser junger Mann genügten – in den sie nicht verliebt war, der sie aber mit seiner Aufmerksamkeit von ihrem Arbeitstag ablenkte– eigentlich ihrer beider Arbeitstag, denn sie arbeiteten zusammen – und ihr zu tieferem Schlaf verhalf.
Heute aber, an diesem Sonntagmorgen mit blauem Himmel, ihrem freien Tag, fern vom hektischen Küchenbetrieb des Restaurants, fern von ihren Angestellten – dem Tellerwäscher und den Köchen –, war sie, ohne ihren nächtlichen Besucher, sogar an einem Tag wie heute reizbar und unsicher – verwirrt. Unbefriedigt. Haltlos. Launisch. Unruhig. Bitter? Elsa überlegte. Ja, vielleicht sogar bitter.
Und für diese Bitterkeit gab es gute Gründe. Eines Abends hatte sie allein einen Schaufensterbummel durch die Innenstadt von Délibáb gemacht. Ein Fotograf hatte ein neues Atelier eröffnet und im Schaufenster übergroße, beleuchtete Porträts aufgehängt, wie sie in der Mittelschicht üblich waren: um ihren Patriarchen versammelte Familien, zurechtgemachte Ehefrauen, die aus sonnenbeschienenen Fenstern schauten, auf Rokokostühlen sitzende Kinder in farblich abgestimmten Ensembles und dann und wann ein Haustier. Weil Elsa keine Familie hatte, interessierten sie Familienbilder ganz besonders – ihre Eltern waren eines natürlichen Todes gestorben, und sie hatte weder Mann noch Kinder. Elsa blieb stehen und sah sich die Porträts genau an. Sie mochte die Bilder schon gut fünf Minuten betrachtet haben, als ihr eines plötzlich besonders auffiel. Sie starrte es mit offenem Mund an. Ein Foto ihres Exmannes starrte zurück – ein Mann, den sie vor Jahren zu lieben geglaubt hatte. Er saß auf einem Stuhl, von einer Frau und zwei Mädchen im Teenageralter umschlungen. Vermutlich war das seine Familie. Er hatte Töchter! Sie sah sich das Foto näher an und wusste nicht, ob sie die Töchter hübsch finden sollte. Besser, man schaute erst gar nicht hin. Sie schüttelte nur den Kopf, sah ihren Exmann an undlachte. Die Vorstellung, dass er Porträts von sich anfertigen ließ, passte ins Bild. Deshalb waren sie vor vielen Jahren getrennte Wege gegangen. Er wollte Dinge, die sie nicht wollte. Beispielsweise Porträts machen lassen. Als sie jung verheiratet waren, hatte er eine Stelle bei den Stadtwerken in Budapest bekommen und eine Wohnung in einem neu erbauten Häuserblock. Er wollte sofort eine Familie gründen.
»Du kannst für uns kochen«, sagte er zu ihr, als sie am Kochinstitut eine Ausbildung machte. »Für mich und die Kinder.«
Das war das Todesurteil. Bald darauf ließ Elsa sich scheiden – nach acht Monaten Ehe.
Auf dem Foto, das vor ihr hing, trug ihr Mann einen dunklen Anzug. Elsa bemerkte seinen Schmerbauch, der aus dem Jackett hervorguckte. Aber er sah zufrieden aus. Sogar glücklich. Elsa musste sich einfach über ihn wundern. Sie hatte ihn zwanzig Jahre lang nicht gesehen. Dass sein Foto jetzt hier, in ihrer Stadt, aufauchte, hätte ihr eigentlich egal sein sollen und war nichts als ein seltsamer Zufall. War sie verbittert darüber, dass dieser jahrelang verschollene Mensch glücklich war, dass er ihre Ablehnung überlebt hatte, ja, aufgeblüht war und seinen Traum verwirklicht und sich sogar reproduziert hatte? Nahm sie ihm übel, dass er zu einem postsozialistischen Familienvater amerikanischer Prägung geworden war, der sich nach Art des neuen
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