Das leichte Leben: Eine Geschichte aus der Vorstadt (German Edition)
Daria Geesen kramte ihr Feuerzeug aus dem Vorratsbehälter für Wattepads und öffnete das Badezimmerfenster. Nach der Geburt ihrer Tochter hatte ihr Mann schon ihre frühere Wohnung zur Nichtraucherzone erklärt, und nach dem Einzug in dieses Haus hatte sie ihn nur mit Mühe davon abhalten können, einen entsprechenden Aufkleber an der Haustür anzubringen. Dennoch gönnte sie sich die letzte Zigarette des Tages im Badezimmer des ersten Stocks, bei geöffnetem Fenster, wenn er schon im Bett lag. Ein angefeuchtetes Tempotaschentuch auf dem Fensterabsatz ersetzte den Aschenbecher.
Ihr Nachbar war gerade nach Hause gekommen und stand nun vor seiner Garage, die Fernbedienung in der Hand, und schaute zu, wie sich das Tor leise sirrend schloss. Ein Männerinstinkt, vermutete sie, das Pferd und die Waffen müssen sicher versorgt sein, damit der Krieger am kommenden Tag das Überleben seiner Familie sichern kann.
Sie musste plötzlich niesen, weil ihr Baumwollnachthemd der Kühle dieses Aprilabends nicht gewachsen war. Aber das Frieren gehörte, wie eine freiwillige Selbstbestrafung, zu dieser letzten Zigarette. Unvermittelt schaute der Nachbar in ihre Richtung. Obwohl sie kein Licht im Bad angemacht hatte, musste er sie gut sehen können. Sie konnte jedenfalls die Sträucher des Spielplatzes erkennen, ein davor liegendes Kinderfahrrad, die bunte Bemalung des Klettergerüstes und der Schaukel. Ihre beiden Häuser bildeten mit zehn weiteren eine Art Hufeisen um diesen Spielplatz, diesen winzigen, putzigen Alibi-Spielplatz, der vor allem die Funktion hatte, die Kinder auf einen Platz zu konzentrieren, der von den Küchenfenstern neben der Haustür einzusehen war.
Der Nachbar schien zu lächeln, hob aber weder die Hand zum Gruß, noch machte er Anstalten, ins Haus zu gehen. Daria nahm die Zigarette in die linke Hand und holte mit der rechten den Lippenstift aus ihrer Schminktasche, die auf dem obersten Fach des Bastregals stand. Sie drehte die Kapsel vom Lippenstift und schrieb die Zahl „10“ auf das Fenster, groß, sehr groß, wie auf ein Plakat. Dann, nach einer kurzen Pause, ergänzte sie zwei kleine, hochgestellte Nullen. Oder hätte sie besser „Uhr“ schreiben sollen? Sie bewegte das Fenster ein wenig vor und zurück und wartete auf eine Reaktion.
Aber er schaute nur, einige Sekunden lang, und ging langsam auf seine Haustür zu. Er drehte sich auch nicht mehr um, als ihn der Bewegungsmelder – den er vor wenigen Wochen selbst installiert hatte – in helles Licht tauchte und er ihr also ein Zeichen hätte geben können. Ihr fiel plötzlich auf, wie kompakt er wirkte in seinen Jeans und dem schwarzen Flauschjackett. Der unmodisch breite Seitenscheitel, der ihn zudem älter wirken ließ, und der gestutzte Vollbart verstärkten den Eindruck einer (ziemlich gut trainierten) Massivität. Dann wurde er von der Doppelgarage zwischen ihren beiden Häusern verschluckt, und sie konnte nur noch hören, wie er den Schlüssel in die Haustür steckte.
Daria drückte die Zigarette im Taschentuch aus, besprühte das Fenster mit dem Reiniger und wischte es gründlich. Danach wusch sie ihre Hände mit echter Kernseife, nicht mit der seifenfreien Lotion aus dem Spender, und betupfte ihre Handgelenke und ihren Hals mit Parfüm.
Frieder lag lesend im Bett und hörte, wie sie die Badezimmertür schloss. Er wusste, dass sie noch ihr Ohr an die geschlossene Tür des Kinderzimmers legen (und nichts anderes hören würde als ihren eigenen Atem). Als sie hereinkam, die Hände an ihren Oberarmen rubbelnd, legte er das Buch und den Brief auf den Nachttisch. Sie drängte sich an ihn, rieb mit der linken Hand über seine Brust, während ihre nackten Füße Kältestöße an seine schickten.
„Was schreibt dein Vater?“
Er wollte nach dem Brief greifen, aber sie hielt seinen Arm fest.
„Erzähl’ es mir. Flüstere es in mein unschuldiges, kleines Ohr.“
„Oh, er schreibt von schmutzigen Dingen, die kleine Mädchen nur verderben könnten.“
„Geht es um Geld? Er hat mich doch schon verdorben. Und dich auch.“ Sie schaute auf die erotische Radierung von Henri Matisse an der gegenüberliegenden Wand, ein Original, das sicher mehrere tausend Euro gekostet hatte. Ein Geschenk von Frieders Vater zum Einzug, eine Segnung ihrer Ehe – und vermutlich eine gut durchdachte Kapitalanlage.
„Er hat sich informiert“, sagte Frieder und rutschte gegen Darias Widerstand nach oben, in eine mehr sitzende Position, „ob es steuerlich
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