Erben der Macht
1.
D ie Knochen klapperten leise wie ein hölzernes Windspiel, als Gus Bellamy sie auf das dunkle Tuch warf, das er vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Er wartete eine Weile, nachdem sie gefallen waren, ehe er sich über sie beugte und ihre Lage studierte. Sie sagten ihm nichts Neues. Die dunklen Kräfte hatten in den letzten Jahren an Macht gewonnen. Das überraschte ihn nicht. Die Wintersonnenwende rückte näher, an der wieder einmal entschieden werden würde, ob die Menschheit langfristig eine Zukunft hatte, oder ob sie von den Dämonen zerstört werden würde.
Gus beobachtete die Entwicklung bereits seit einem Jahr, indem er täglich das Knochenorakel befragte. Er gehörte zu den wenigen Wissenden weltweit, die die wahren Zusammenhänge kannten. Er wusste nicht nur darüber Bescheid, dass das Eine Tor zur Wintersonnenwende geöffnet werden konnte, durch das fast jeder Dämon der Hölle in diese Welt gelangen könnte. Er wusste auch, dass in diesem Jahr die Große Entscheidung gefallen war, bei der die Mächte des Lichts und der Finsternis durch auserwählte Champions ausfochten, wer von ihnen für die nächsten ungefähr tausend Jahre in der Menschenwelt die Vorherrschaft bekommen würde.
Beide Ereignisse hingen zwar nicht direkt zusammen, aber sie beeinflussten einander. Diejenige Macht, die durch die Große Entscheidung gestärkt wurde, erhielt in dieser Welt bessere Möglichkeiten, zu erreichen, dass das Eine Tor geöffnet werden konnte oder nicht. Wenn die Finsternis an Macht gewann, befähigte sie das unter anderem, Menschen zu korrumpieren, die durchschnittlich oder sogar überdurchschnittlich „gut“ waren. Magische Strömungen waren dafür verantwortlich, die die Sphären durchdrangen. Die meisten Menschen bemerkten von diesen Strömungen nichts. Nichtsdestotrotz existierten sie und taten ihr subtiles Werk.
Die Große Entscheidung war vor zwei Tagen gefallen, in dem Moment, als es auf der Erde eine Sonnenfinsternis gegeben hatte. Soweit verrieten die Knochen Gus Altbekanntes; bis auf ein Detail, das zwar klein, aber ungeheuer wichtig war und etwas Außergewöhnliches darstellte. Wenn er sich nicht sicher gewesen wäre, dass er ihren Offenbarungen vertrauen konnte, hätte er das, was sie verkündeten, für unmöglich gehalten. Doch er hatte das Ergebnis etliche Male überprüft und immer wieder dieselbe Antwort erhalten. Also musste es stimmen, dass weder Licht noch Finsternis gesiegt hatte, sondern beide gemeinsam; oder es war ein Unentschieden erreicht worden. Was auch immer. Jedenfalls hätte es das eigentlich nicht geben können, weil die Regeln des Kampfes am Ende ein Opfer forderten: das Leben des Verlierers. Gus konnte sich nicht vorstellen, dass beide Champions ihr Leben geopfert hatten. Aber diese Details würden Menschen sowieso niemals erfahren.
Die Loas hatten Gus bestätigt, dass die Entscheidung zugunsten beider Mächte gleichermaßen gefallen war. Das bedeutete, dass Licht und Finsternis sich in absehbarer Zeit in einem Gleichgewicht einpendeln würden, was ihren Einfluss auf die Menschen und ihre Welt betraf. Das wiederum bedeutete, dass seit vorgestern der Einfluss der Mächte des Lichts gestärkt wurde, da die Finsternis die letzte Große Entscheidung vor tausend Jahren für sich hatte verbuchen können. Und wenn das Licht gestärkt wurde, würde das Eine Tor durch diesen Einfluss vielleicht auch diesmal verschlossen bleiben, weil nicht nur die Diener des Lichts darauf hinarbeiteten, sondern auch solche Menschen und andere Wesen sich dazu berufen fühlten, die diesen Dingen eher gleichgültig gegenübergestanden hatten. Sofern sie überhaupt davon wussten.
Aber es gab noch einen weiteren nicht zu unterschätzenden Faktor. Die Loas munkelten, dass die Unterwelt seit vorgestern eine Königin hatte, die den Thron an Luzifers Seite beanspruchen konnte. Angeblich war sie keine reinblütige Dämonin und besaß Macht über Leben und Tod in einer Weise, die normalerweise den Göttern vorbehalten war. Ob das gut oder schlecht für die Menschheit war, blieb abzuwarten.
Gus hatte schon vor sehr langer Zeit gelernt, dass nichts und niemand nur schwarz oder weiß war. Selbst in einem guten Menschen steckte etwas Böses und im schlimmsten Geschöpf steckte etwas Gutes, und sei es nur in der Hinsicht, dass eine beabsichtigte böse Tat ungewollt etwas Gutes bewirkte. Oder umgekehrt. Schließlich war schon so mancher Weg ins Verderben mit guten Absichten gepflastert worden, die das
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