Erben der Macht
Gegenteil bewirkt hatten.
Er betrachtete wieder die Knochen. Für die bevorstehende Wintersonnenwende – in sechsunddreißig Tagen – sagten sie ihm nichts, was ihm oder anderen hätte helfen können. Wie jedes Mal. Und wie jedes Mal hatte Gus gehofft, dass sich die Dinge verändert hätten und er etwas Neues, Wichtiges erfuhr. Vergebens.
Das Glockenspiel an der Eingangstür kündigte einen Kunden an. Er fegte die Knochen mit einer Hand zusammen und legte sie in ihren Beutel, ehe er durch den Perlenvorhang vor dem Hinterzimmer den Laden betrat.
Die Afroamerikanerin, die vor dem Tresen stand und die Auslagen betrachtet hatte, lächelte ihn an. „Hallo Gus. Immer, wenn ich dich besuche, bist du wieder mal jünger geworden.“ Sie streckte ihm die Hände entgegen. „Wie machst du das nur?“
Er zog sie an sich. „Das Kompliment sollte ich eher dir machen, Sheeba. Du bist wie immer wunderschön.“
Sheeba Salazar war Mitte fünfzig, aber das sah man ihr nicht an. Ihr schwarzes Haar zeigte keine einzige graue Strähne – und Gus wusste, dass sie es nicht färbte – und ihr Gesicht wirkte wie das einer um zwanzig Jahre jüngeren Frau. Ihm sah man dagegen an, dass er über achtzig war; das teilte ihm sein Spiegel jeden Morgen erbarmungslos mit. Was ihn aber nicht störte, denn das Alter gehörte nun mal zum Leben.
„Es ist schön, dass du mich besuchst, Sheeba. Ich habe frischen Kaffee aufgesetzt. Du trinkst doch eine Tasse mit mir? Und nebenbei kannst du mir erzählen, was dich aus dem fernen New York nach New Orleans führt.“ Er sah sie nachdenklich an. „Es ist diese besondere Wintersonnenwende, stimmt’s?“
Sie lächelte und folgte ihm ins Hinterzimmer. „Warum fragst du noch, wenn du es schon weißt?“
Er bot ihr mit einer Handbewegung Platz in einem alten Ohrensessel an.
Sie setzte sich und deutete auf den Beutel mit den Orakelknochen. „Was sagen die Knochen?“
Er lächelte. „Wer fragt jetzt nach etwas, das sie selbst schon weiß?“ Er holte den Kaffee und schenkte ein. „Immer noch schwarz?“
Sie nickte. „Deinen Kaffee ja. Falls seine Qualität seit meinem letzten Besuch nicht schlechter geworden ist und ich ihn mit Milch und Zucker verschandeln muss, damit er genießbar wird.“
Gus lachte. „Kaffeekochen habe ich nicht verlernt.“ Er nahm ihr gegenüber Platz, nahm seinen Becher in die Hand und blickte Sheeba über den aufsteigenden Dampf an. „Ich habe dich erwartet.“
Sie war nicht überrascht. „Dann weißt du, weshalb ich gekommen bin. Abgesehen davon, dass es mit der Sonnenwende zu tun hat.“
Er schüttelte den Kopf. „Das haben mir die Loas nicht verraten. Aber genießen wir erst mal den Kaffee. Erzähl, was gibt es Neues in New York? Das Geschäft brummt, nehme ich an.“
Sheeba betrieb ebenso wie er einen Devotionalienladen, Sheeba für Pagans und Esoterikfans, Gus für Voodooisants. Hin und wieder gab es Überschneidungen in den Bedürfnissen ihrer jeweiligen Kunden, weshalb sie sich gegenseitig mit entsprechenden Waren aushalfen. Darüber hinaus respektierten sie einander als Praktizierende der Magie, Gus als Houngan – Hohepriester – des Voodoo, Sheeba als Hexe des Wiccakultes, obwohl ihre Vorfahren aus der Karibik stammten.
„Ja, die Geschäfte gehen gut“, bestätigte sie. „Ich kann nicht klagen. Profane Neuigkeiten gibt es keine. Zumindest keine, die wichtig wären.“ Sie trank einen Schluck Kaffee und seufzte lächelnd. „Gut wie immer. Ich sollte öfter zum Kaffee vorbeikommen.“ Sie wurde ernst. „Ich weiß nicht, was die Loas dir alles erzählt haben, vielmehr, was du sie konkret gefragt hast. Deshalb sage ich dir am besten, wie die Dinge bei uns stehen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Es sieht nicht gut aus. Die Hüter der Waage haben die beiden Halbdämonen gefunden, die das Tor öffnen können.“
„Oder es versiegeln.“
Sie nickte. „Aber danach sieht es nicht aus. Als die Hüter die Frau in Gewahrsam nehmen konnten …“
„Wie heißt sie? Oder fürchtest du sie so sehr, dass du sie nicht beim Namen nennen willst?“
„Ich fürchte sie nicht.“ Das klang empört.
„Dann sprichst du ihren Namen nicht aus, weil ihr sie töten wollt“, brachte er es auf den Punkt. „Aber auch seinem Feind schuldet man Respekt. Und ich bin mir noch nicht sicher, ob diese beiden wirklich Feinde sind.“
Sheeba verbarg ihre Verlegenheit, indem sie einen weiteren Schluck trank. „Bronwyn. Sie heißt Bronwyn Kelley. Und der Mann
Weitere Kostenlose Bücher