Erdbeerkönigin
Tag, desto schöner die Gäste. Liebe Freunde, nehmt es mir nicht übel, aber ihr seid mir manchmal ein wenig zu verschrumpelt.« Alle lachten. Daniel beugte sich über Tante Hedwigs Hand und führte sie dann an seine Lippen. Obwohl er sich wie ein Angeber benahm, wie ihre Freunde in der Schule bestimmt gesagt hätten, fand Eva ihn nett. Denn auf rätselhafte Weise sah bei ihm alles natürlich und überhaupt nicht aufgesetzt aus. Sie betrachtete sein weißes Hemd, die Turnschuhe und die dunklen Jeans. Die Jungs im Dorf trugen auch Jeans und Hemden – aber bei diesem Daniel sah es anders aus. Schöner.
Als sich Daniel endlich neben seine Mutter setzte, beobachtete Eva ihn heimlich weiter. Ihm schien weder zu heiß zu sein noch wirkte er gelangweilt. Er unterhielt sich mit seinen Eltern, schäkerte mit Tante Hedwig quer über den Tisch und amüsierte sich offensichtlich. Eva war hin- und hergerissen zwischen Neid und Ablehnung. Entweder war Daniel ein spießiger Schleimer, der zufällig gut aussah. Oder aber er war von einer beneidenswerten Selbstsicherheit und konnte mit seinem freundlichen Lächeln gar nicht echt sein.
Im Grunde hätte sich Eva trotz der Hitze auch gern am guten Essen und dem schönen Ausblick auf die Elbe mit den vorbeiziehenden Schiffen gefreut. Aber sie war neunzehn, und in diesem Alter musste man ein Treffen mit alten Leuten uninteressant finden, oder? Wieso ging dieser Daniel damit so unangestrengt um? Sie musterte ihn unter gesenkten Lidern. Unvermittelt drehte er den Kopf, und ihre Blicke kreuzten sich. Eva merkte, wie sie rot wurde, und sah schnell beiseite.
Während die Gäste aßen, verdunkelte sich draußen der Himmel und die Temperatur in dem stickigen Raum stieg weiter. Eva fühlte, wie ihr der Schweiß den Rücken hinunterlief.
Nachdem die Festgesellschaft den Hauptgang verzehrt hatte, stand Tante Hedwig auf. »Meine Lieben«, hob sie an. »Die Scholle war ausgezeichnet, und bevor Kaffee und Kuchen serviert werden, hat man mich gebeten, auf ein kurzes Unterhaltungsprogramm hinzuweisen.« Sie lächelte einem alten Mann zu, der sogleich geschäftig aufstand und sich an einem Kassettenrecorder zu schaffen machte.
Von den Gästen hörte man Applaus und Zurufe.
Eine Dame mit weißem Lockenkopf krähte: »Wieso nur ein kurzes Programm?« Es folgte das Übliche: mehrere launige Reden, ein Bericht über die letzte Reise des Seniorenschachclubs, dessen Mitglied Tante Hedwig war, und zuletzt ein mehrstrophiges Geburtstagsständchen.
Als die Gäste johlend ein Dacapo des Liedes forderten, wollte Eva aufstehen, um auf die Toilette zu flüchten. Doch unvermittelt spürte sie eine Bewegung an ihrer Schulter. Sie drehte sich um und sah in dunkle, dicht bewimperte Augen. Vor ihr stand Daniel Eisenthuer.
Ein Blitzschlag erhellte den Himmel. Daniel Eisenthuer hielt Eva seine Hand mit einer derart zwingenden Selbstverständlichkeit hin, dass sie ihre wie ferngesteuert hineinlegte. Als wären sie schon lange ein Paar, sagte Daniel schlicht: »Lass uns hier abhauen.« Ohne einen Blick auf ihre Mutter oder Tante Hedwig stand Eva auf.
Draußen begann es heftig zu regnen. Daniel hielt Evas Hand fest, als sie aus dem Gasthaus rannten. Unter dem Dach der Bushaltestelle auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand der Straßenmusiker und spielte einen Walzer. Wie eine Welle grollte der Donner über den Himmel. Spaziergänger suchten Schutz unter Häuservorsprüngen und packten Schirme aus. Daniel und Eva liefen in den Regen und in die Musik hinein. Eva hielt den Atem an. Aber sie drehte sich nicht mehr um.
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2 . Kapitel
Was würdest Du gern besser können?
(Gesprächsstoff: Original)
Immer noch Mittwoch, Tag 1
A ls die Zugdurchsage die Ankunft in Hamburg verkündet, hole ich das Anwaltschreiben aus der Tasche und rufe Hubertus Münchmeyer an. »Münchmeyer, Rottmann und Steinhausen«, meldet sich eine hanseatisch klingende Stimme, die mich sofort ein bisschen einschüchtert.
»Guten Tag. Also …«, beginne ich stockend. »Mein Name ist Eva Brandt, und ich …«
»Frau Brandt, guten Tag! Sie möchten sicher mit Herrn Dr. Münchmeyer sprechen«, sagt die Empfangsfrau wie aus der Pistole geschossen. »Ich stelle Sie sofort durch.«
Erstaunt lausche ich in den Hörer. Offensichtlich hat man in der nobel klingenden Kanzlei auf mich gewartet. Auch der Anwalt wirkt weniger überrascht, als ich mich selbst fühle. »Kommen Sie doch direkt zu mir in die Kanzlei in Altona, dann können wir
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