Erdbeerkönigin
alles besprechen.«
»Wie finde ich Sie?«, frage ich und komme mir sehr dumm vor, wie ein kleines Kind, das nach dem Weg fragen muss.
»Nehmen Sie sich ein Taxi«, schlägt Münchmeyer vor, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. Als er mein Zögern bemerkt, erklärt er mir in wenigen Worten, wie ich vom Hauptbahnhof mit der S-Bahn nach Altona komme. Ich bin froh, dass er sich kurz fasst, denn der Akku meines Handys ist fast leer.
Mit der S-Bahn fahre ich durch die fremde Stadt, vom Hauptbahnhof vorbei am Fluss Alster, über dessen gekräuselte Oberfläche Boote mit bunten Segeln gleiten. Die Sonne strahlt von einem wolkenlosen blauen Himmel, und Hamburg sieht aus wie in einer Tourismusbroschüre: hell leuchtende Häuser, grüne Kupferdächer, verschnörkelte Straßenlampen, spiegelnde Fensterscheiben. Alles strahlt Sauberkeit und Wohlstand aus. Nach der Station Dammtor fährt die S-Bahn an einem großen Park entlang auf den Fernsehturm zu. Dann schiebt sich rechts ein alter Wasserturm ins Blickfeld, und die Bahn erreicht die Station Sternschanze. Ab hier ändert sich das Stadtbild – und das Publikum. Die Gebäude wirken nicht mehr so blank geputzt, manche sind regelrecht abgeschabt und grau. In meinem Abteil sitzen viele Menschen mit dunkler Haut. Eine Gruppe Jugendlicher breitet sich auf mehreren Sitzbänken aus. Die Jungen lachen und raufen sich, die Mädchen kichern. Sie sind alle auffällig geschminkt und tragen tief ausgeschnittene, hautenge T-Shirts, zwei von ihnen auch Kopftücher. Bei uns in Bienenholz gibt es bisher nur ein griechisches Restaurant. Und das wird von Ivo und Ada geführt, einem kroatischen Paar, das sich im Urlaub in der Ägäis verliebt und dann bei uns das »Mykonos« eröffnet hat.
In Altona habe ich zunächst einige Schwierigkeiten, mich zurechtzufinden. »Die Kanzlei ist gleich neben dem großen Einkaufszentrum in der Fußgängerzone«, hat Münchmeyer gesagt. Dort ist so viel los wie bei uns an einem Markttag: Mütter schieben ihre Kinderwagen, Geschäftsleute eilen in dunklen Anzügen in Kaffeebars, alte dunkelhäutige Männer mit seltsamen Mützen sitzen rauchend auf Bänken, tätowierte Punks leeren Bierdosen, Hunde laufen kläffend umher, Pärchen knutschen an Kaffeehaustischen. Ein Akkordeonspieler hat sich im Schatten einer Hausfassade auf den Rand eines Blumenkübels gesetzt. Unwillkürlich bleibe ich für einen Moment stehen und höre zu. Der Musiker sieht auf eine verwitterte Weise gut aus. Dunkle Augen, ein gleichmäßig geschnittenes Gesicht, hohe Wangenknochen und ein freundliches Lächeln. Er ist schon recht alt, seine Schultern sind gebeugt und die Locken, die sich über seinen Ohren kringeln, grauweiß. Er trägt eine alte Lederjacke, ausgeblichene Jeans und ich habe den Eindruck, dass es ihm Spaß macht, hier zu spielen. Der Akkordeonkasten steht offen neben ihm, aber manchmal bemerkt er gar nicht, wenn jemand eine Münze auf den dunklen Samt wirft. Er hat die Augen geschlossen und ist so sehr der Musik hingegeben, dass ich das Gefühl habe, einem besonderen Konzert beiwohnen zu dürfen. Der melancholische Ton seines Instruments übertönt die vielen Straßengeräusche. Mit einem letzten traurigen Ton beendet der Akkordeonist sein Spiel. Viele Leute applaudieren, und er nimmt den Applaus mit einer lässigen Bewegung seines Kopfs entgegen, wie ein König die Huldigung seines Volks akzeptiert. Doch seine Augen blitzen zu vergnügt, als dass man ihn für arrogant halten könnte. Im Gegenteil, es ist etwas Sympathisches an ihm, das mich schmerzhaft an meinen Vater erinnert. Vielleicht liegt es auch am Akkordeon. Noch zwei Stücke spielt der Musiker, dann schließt er mit einem fulminanten Akkord und legt das Instrument in den Koffer. Schade, ich bin mit den Münzen, die ich aus meiner Jeanstasche grabe, zu spät. Ratlos hebe ich den Blick und sehe in die freundlichen grauen Augen des Akkordeonspielers. Er hält mir seine Hand hin. »Danke, schöne Dame!« Er spricht mit einem Akzent, den ich nicht einordnen kann. Ich lasse die Münzen in seine Hand fallen und habe dabei das befremdliche Gefühl, als würden mich seine Augen einen Moment zu lange festhalten. Er sieht mich an, als ob er mich kennt und darauf wartet, dass auch ich ihn erkenne. Fragend erwidere ich seinen Blick. Aber der Musiker wendet sich unvermittelt ab. Ich habe mich wohl doch getäuscht. Woher sollte ich auch einen Akkordeonisten in Hamburg kennen, der nicht aus Deutschland ist? Ich
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