Erdbeerkönigin
mir den Stift zur Unterschrift. »Wie geht es Benny? Hab den Jungen lange nicht gesehen.«
Er verlagert sein Gewicht auf das rechte Bein und lehnt sich behaglich an die Hauswand. Offenbar stellt er sich auf einen längeren Plausch ein. Schnell greife ich nach den Briefen und verabschiede Leffler mit einer Notlüge. »Vielen Dank, aber ich hab was auf dem Herd!«
In der Küche sehe ich mir die Briefe an. Ein Schreiben für Mama, per Nachsendeantrag zu uns umgeleitet. Es ist von der Kreisverkehrswacht. Ungläubig lese ich: »Sehr geehrte Frau Bendixen, wir freuen uns, Ihnen diese Urkunde überreichen zu können. Weiterhin noch viel Freude am Fahren!« Das angefügte Schmuckblatt mit Mamas Namen bescheinigt meiner Mutter » 50 Jahre unfallfreies Fahren«. Mir stockt der Atem, und ich schnappe nach Luft, als hätte mir jemand in den Bauch geboxt. Ich hatte geglaubt, mit dem Schmerz schon viel besser umgehen zu können. Doch Kummer hält sich nicht an Regeln, das merke ich einmal mehr an diesem Morgen. Auch diesmal packt er mich unvermittelt und mit einer Heftigkeit, als wäre das Schreckliche erst gestern und nicht vor drei Monaten geschehen. Damals hat Mama ihren heißgeliebten Mercedes gegen einen Autobahnbrückenpfeiler gelenkt. Behaupte ich. Nick glaubt wie der Rest der Welt an einen Unfall. Aber Mama war eine routinierte und ausgezeichnete Fahrerin. Ich sehe auf das Blatt Papier vor mir. Diese Urkunde wäre verdient gewesen. Ich glaube, etwas Bitteres im Mund zu haben, und schlucke schnell. Vielleicht schmecken so ungeweinte Tränen? Ich konnte nicht weinen über Mamas Tod. Genau genommen habe ich seitdem überhaupt nicht mehr geweint. Nicht, als ich den Anruf aus dem Krankenhaus bekam, nicht beim Bestatter und bei dem Gespräch mit der jungen Pastorin, die zu Mamas Beerdigung sprach. Ans Grab bin ich damals nach der Trauerfeier auch nicht mitgegangen. Ich bin seitdem nie wieder auf dem Friedhof gewesen.
Als ich mich etwas beruhigt habe, öffne ich den Brief aus Hamburg. »Sehr geehrte Frau Brandt«, lautet der Text. »Mein verstorbener Mandant, der Galerist Daniel Eisenthuer, bittet in seinem Testament darum, dass Sie bei seiner Urnenbeisetzung die Grabrede halten. Bitte lassen Sie mich doch wissen, ob Ihnen dies möglich sein wird. Mit freundlichen Grüßen. Hubertus Münchmeyer«. Die Worte verschwimmen vor meinen Augen, und ich wische mir mit der Hand über die Stirn. Was soll das? Ich lasse das Blatt sinken. Dann trifft es mich unvermittelt, eiskalt. Daniel. Daniel Eisenthuer. Mein Herz schlägt schneller.
Ich streiche fahrig den Briefbogen glatt und beginne noch einmal von vorn.
Testament. Urnenbeisetzung. Grabrede. Aber das heißt doch … Ich muss tief Atem holen, lese das Schreiben zum dritten Mal. Und dann finde ich auch das kleine Wort, das ich beim Überfliegen übersehen habe. Da steht es, vor »Mandant«: »Mein verstorbener Mandant, der Galerist Daniel Eisenthuer …« Ich lasse den Bogen wieder sinken. Jetzt erst sickert die Bedeutung der Worte wirklich in mein Bewusstsein. Daniel ist tot.
Es ist so still in der Küche, dass ich glaube, das Pochen meines Herzens zu hören. Meine Gedanken überschlagen sich. Ich sehe Daniel vor mir. Klar und scharf. Als ob es die vergangenen zwanzig Jahre nicht gegeben und wir uns erst gestern gesehen hätten. Das weiche schwarze Haar. Seine dunklen Augen, von einem dichten Wimpernkranz eingerahmt, auf den ich fast neidisch war. Mir ist, als würde er jetzt im Tor zum Garten stehen – barfuß, die verwaschenen Jeans auf den schmalen Hüften, darüber ein halboffenes hellblaues Hemd. Das ist selbstverständlich Unsinn. Denn Daniel sähe heute bestimmt nicht mehr so aus, wie er in meiner Erinnerung vor mir steht. Wieder blicke ich auf den Brief, und mit einem Mal überkommt mich ein Gefühl tiefsten Bedauerns. Ich werde nie mehr erfahren, wie Daniel erwachsen geworden ist, wie er ausgesehen hat, mit dreißig oder mit vierzig Jahren. Daniel ist tot.
Vorgarten und Straße liegen still da. Die Amsel ist fortgeflogen. Immer noch sehe ich den jungen Daniel in meinen Gedanken vor mir. Und dann taucht neben ihm ein junges Mädchen auf, fast schon eine junge Frau. Sie hat lange blonde Haare und runde Hüften und trägt eine schlichte Bluse zu einer dunklen Hose. Sie blickt hoch, als ob ihr jemand etwas zuruft, und lächelt. Sie beugt sich nach vorn, streift Schuhe und Socken ab und lacht, während sie die Zehen auf dem Rasen bewegt. Das Bild wird unscharf.
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