Erdzauber 02 - Die Erbin von Wasser
davon, um Mathom Bescheid zu geben. Sie blieb am Fenster stehen, sah, wie die Reiter einen Bogen um die
Nußpflanzungen schlugen. Nur ab und zu blitzten ihre Farben im Netzwerk schwarzer, kahler Äste auf. An einer Ecke der alten Stadtmauer tauchten sie wieder auf und nahmen die Hauptstraße durch die Stadt, die sich in Windungen zum Marktplatz zog, vorbei an alten hohen Häusern und Läden, an deren Fenstern, aufgerissen wie neugierige Augen, sich die Gaffer drängten. Als die Reiter schließlich unter den Stadttoren verschwanden, wußte Rendel, was sie tun würde.
Drei Tage später saß sie neben der Schweinehirtin des Herrn von Hel unter einer Eiche und flocht Grashalme zu einem Netz. Rundum erzitterte der beschauliche Nachmittag vom Grunzen und Quietschen der riesigen Schweineherden von Hel, die im Schatten der Eichen durch das Unterholz stöberten. Die Schweinehirtin, der nie jemand einen Namen gegeben hatte, hockte da und rauchte nachdenklich eine Pfeife. Sie war eine große, knochige kräftige Frau mit langem, zerzaustem grauem Haar und dunkelgrauen Augen; sie hütete die Schweine seit undenklichen Zeiten. Sie und Rendel waren über die Zauberin Madir miteinander verwandt; in welcher Verwandtschaftsbeziehung sie zueinander standen, das versuchten sie jetzt herauszufinden.
Unter ihren Schweinen fühlte die Hirtin sich wohl; Menschen gegenüber war sie scheu und brüsk, doch die schöne und feurige Cyone hatte Madirs Interesse an Schweinen geerbt und sich mit der schweigsamen Schweinehirtin angefreundet. Nicht einmal Cyone jedoch hatte das entdeckt, was Rendel wußte: daß die Schweinehirtin von Madir einen großen Wissensschatz geerbt hatte.
Rendel pflückte noch einen kräftigen Grashalm ab und zog ihn in flinkem Auf und Ab durch das kleine viereckige Geflecht.
»Mache ich das so richtig?«
Die Schweinehirtin befühlte das engmaschige Flechtwerk und nickte.
»Darin könntest du Wasser tragen«, sagte sie mit ihrer rauhen Stimme. »Also, ich glaube, König Oen hatte einen Schafhirten, den Madir recht gern hatte.«
»Ich dachte, sie hätte vielleicht Oen gern gehabt.«
Die Schweinehirtin machte ein überraschtes Gesicht.
»Nachdem er den Turm gebaut hatte, um sie gefangenzusetzen? Das hast du mir doch erzählt. Außerdem hatte er eine Frau.« Sogleich fegte sie die Worte und den Rauch aus ihrer Pfeife mit einer Handbewegung fort. »Ich habe nicht überlegt.«
»Ich habe nie gehört, daß einer der Könige Madir heiratete«, bemerkte Rendel mit leichter Ironie. »Und doch gelangte ihr Blut irgendwie in die königlichen Adern. Also: sie lebte beinahe zweihundert Jahre. In dieser Zeit gab es sieben Könige. Fenel, glaube ich, können wir vergessen. Der hatte Mühe, einen Landerben zu zeugen, geschweige denn einen Bastard. Ich weiß nicht einmal, ob er Schweine hielt. Es ist möglich«, fügte sie, von einem plötzlichen Gedankenblitz getroffen, hinzu, »daß du ein Nachkömmling eines Kindes von Madir und einem der Könige bist.«
Die Schweinehirtin, die selten lachte, kicherte.
»Das bezweifle ich. Ich mit meinen nackten Füßen. Madir mochte Schweinehirten so gern wie Könige.«
»Das ist wahr.« Rendel schob die Grashalme ihres Flechtwerks eng zusammen und blickte mit gerunzelter Stirn geistesabwesend darauf nieder. »Es ist auch möglich, daß Oen Madir liebte, nachdem er sah, daß sie nicht seine Feindin war; aber ein wenig empörend wäre das schon. Schließlich kam durch ihn Ylons Blut in den königlichen Stamm. Und darüber war Oen zornig genug.«
»Ylon?«
»Du kennst doch die Geschichte.«
Die Schweinehirtin schüttelte den Kopf.
»Ich kenne den Namen, aber niemand hat mir je die Geschichte erzählt.«
»Hm.« Sie lehnte sich an den Baum, und die Sonne spiegelte sich schimmernd in ihren Augen. Auch sie hatte die Schuhe ausgezogen; das Haar floß ihr offen auf die Schultern; eine kleine Spinne hatte sich in einer ihrer Haarsträhnen verirrt. Ohne sie zu bemerken, streifte sie sie ab. »Das ist das erste Rätsel, das ich je gelernt habe. Oens Landerbe war nicht sein eigener Sohn, sondern der Sohn eines geheimnisvollen Herren des Meeres, der als der König verkleidet in Oens Bett kam. Neun Monate später brachte Oens Frau Ylon zur Welt. Seine Haut war wie Schaum und seine Augen wie grüner Seetang. Da baute Oen in seinem Zorn an der See einen Turm für diesen Meeressohn und gebot, daß er niemals herausgelassen werden sollte. Fünfzehn Jahre nach seiner Geburt vernahm Ylon eines Nachts
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