Erfrorene Rosen
Dann sieht er den glühenden Punkt, der neben ihm Halt macht, im Dämmerlicht glimmt wie ein Leuchtturm im aufgewühlten Meer. Wie ein Wegweiser, ein Lebenszeichen. Der Mann mit der Zigarette ist Tossavainen, Ollis Praktikumsbetreuer.
Die Menschen haben bestimmte Vorstellungen von der Polizei. Auf die Polizei ist Verlass. Wenn alles andere versagt, wenn sonst nichts mehr hilft, ruft man die Polizei. Die Polizei weiß die Antwort auf jede Frage. Ein Polizist ist stark, untadelig, geradlinig. Wie ein Comic-Held, fast ein Fabelwesen. Von diesem Bild waren auch Ollis Vorstellungen nicht weit entfernt gewesen. Vor allem von dem Beamten, der ihn anlernen soll, hat er sich etwas Besonderes erwartet. Doch der Mann, der neben ihm steht, scheint vom Alkohol angenagt, seine Zähne weisen ihn als Kettenraucher aus, seine Haut ist blassgrau, seine Haltung schlaff, seine Kontur tendiert zur Birnenförmigkeit. Alles in allem eine ausgesprochen farblose und verschwommene Erscheinung für einen Mann, erst recht für einen Polizisten. Aber irgendeine besondere Qualität muss Tossavainen doch besitzen. Welche?
Gerade in dem Moment hat Tossavainen einen Hustenanfall, aus den Tiefen seines Brustkorbs ertönt schleimiges Röcheln. Er beugt sich leicht nach vorn, widmet sich ganz und gar dem Husten, bis das Schlimmste vorbei ist. Eine Weile bleibt er noch so stehen, als erwarte er, dass nach dem Husten etwas Festeres hochkäme, dann richtet er sich Wirbel für Wirbel langsam auf.
Er seufzt vernehmlich, wischt sich die Augen trocken und betrachtet die Fassade des heruntergekommenen Hauses. Es ist unverkennbar, dass sich hier seit Langem niemand mehr um irgendetwas gekümmert hat. Tossavainen reibt sich das stoppelbärtige Kinn, führt dann die Zigarette zwischen die Lippen und saugt so gierig daran, dass sie leise knistert.
»Vorgestern in der Nachtschicht hatten wir einen Einsatz wegen dem hier«, erklärt er schwerfällig und nickt zu dem Haus hinüber. »Jemand hatte gesehen, wie der Mann mit einer Flinte über der Schulter hier auf dem Hof herumlief und dann im Wald verschwand.«
»Tatsächlich?«, fragt Olli erstaunt. »Warum ist er denn mit der Flinte draußen rumgeschlichen?«
»Vielleicht aus demselben Grund, weshalb wir jetzt hier sind. Die Jungs von der Nachtschicht haben nach ihm Ausschau gehalten, ihn aber nicht gesehen. Hier im Haus sind sie nicht gewesen.«
»Nicht?«, wundert Olli sich wieder.
»Nein. Zu dem Zeitpunkt handelte es sich nur um einen Verstoß gegen das Waffengesetz. Der Mann hatte niemanden bedroht und keinen Schuss abgegeben. Wegen so was rennen wir uns nicht die Hacken ab.«
»Und woher wissen wir, dass er jetzt da drin ist?«
»Sein Bruder hat uns alarmiert. Von ihm haben wir auch den Schlüssel bekommen. Er wollte nach dem Rechten sehen, weil der Bruder nichts von sich hören ließ. Als er ihn gefunden hat, ist er Hals über Kopf weggerannt und erst nach zwei Kilometern stehen geblieben. So weit ist er zuletzt in den Siebzigern gelaufen, sagt er.«
Tossavainen zieht noch einmal an der fast bis zum Filter heruntergebrannten Zigarette. Ein Rauchkringel steigt ihm ins Auge, er blinzelt heftig. Die Kippe verschwindet zischend im feuchten Gras. Damit verschwindet auch der letzte Lichtpunkt, die Dunkelheit wirkt trostlos.
»Na, dann wollen wir mal. Nimm du den hier, ich mach die Aufnahmen«, sagt Tossavainen unlustig und hält Olli den Ermittlungskoffer hin.
Olli zögert einen Moment und betrachtet seine bereits in Schutzhandschuhen steckenden Hände, bevor er den Koffer entgegennimmt. Dabei sieht er Tossavainen gespannt an, doch der nimmt keine Notiz davon, wie gut er sich vorbereitet hat, sondern wendet sich ab und geht die Vortreppe hinauf.
Verwundert beobachtet Olli Tossavainens zielstrebigen Marsch in Richtung Haustür. Im Kurs über Tatortermittlungen an der Polizeischule ging es gleich in der ersten Stunde darum, wie man sich an einem Tatort verhält. Was zu tun ist, damit die Streife nicht die eventuellen Spuren kontaminiert, die der Täter hinterlassen hat. Tossavainen stellt schon mit seinen ersten Schritten das Gelernte auf den Kopf.
Sie können doch noch gar nicht wissen, worum es bei diesem Fall geht. Warum ist der Mann vorgestern Nacht mit einer Flinte herumgelaufen und warum liegt er jetzt tot in seinem Haus? Hatte er Feinde? Wollte jemand bei ihm Schulden eintreiben? Oder hatte umgekehrt jemand Schulden bei ihm? Obwohl Olli noch keine Erfahrung als Polizist hat, weiß er sehr wohl,
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