Erfrorene Rosen
Ollis Schilderung hat ihre Fantasie angeregt. »Sie hat versucht, durch diesen Susiaho von deinem Vater loszukommen«, ergänzt sie. »Er hat ihr die Hoffnung zurückgegeben, hat ihr gezeigt, dass sie doch noch eine Chance hat, ein ganz normales Leben zu führen. Aber was ist schiefgegangen?«
»Was glaubst du denn? Vielleicht ist mein Vater ihnen vorher auf die Schliche gekommen. Oder sie haben tatsächlich versucht, ihre Pläne zu verwirklichen. Aber Susiaho wusste nicht, mit wem er sich da angelegt hat, obwohl meine Mutter ihn bestimmt gewarnt hat. Er ist unter rätselhaften Umständen spurlos verschwunden.«
Olli hebt den Kopf und schaut ins Leere, versucht, eine ferne Erinnerung einzufangen.
»Ich erinnere mich daran, wie ich wieder einmal mit Mutter auf der Flucht war. Wir waren in irgendeiner Wohnung. Dort sollten wir länger bleiben, Mutter sprach davon, dass wir nie wieder in Vaters Haus gehen würden. Aus irgendeinem Grund sind wir dann aber doch zurückgekehrt. In der Wohnung habe ich eine kleine Farbmaus bekommen. Das ist mir im Gedächtnis geblieben.«
»Wessen Wohnung war das?«, fragt Anna.
»Sie muss wohl Susiaho gehört haben. Ich erinnere mich, dass wir auf jemanden warteten, der nicht kam. Deshalb mussten wir zurück.«
»Aber dein Vater hat ihn doch sicher nicht umgebracht.«
»Wieso nicht? Meinst du, dazu wäre er nicht fähig gewesen? Obendrein hat er ihm noch die Kette abgenommen, um sie meiner Mutter zu zeigen, als Beweis«, sagt Olli und lässt das Kreuz baumeln. »Das war eine Art Trophäe, eine sadistische Art, ihr zu sagen, was passiert war, und sie weiter einzuschüchtern.«
»Verrückt«, murmelt Anna. Sie bringt es kaum fertig, sich die Szene in ihrer ganzen Grauenhaftigkeit vorzustellen. »Warum hat deine Mutter keinem davon erzählt? Von dem Mord.«
»Vielleicht hat Vater sie erpresst. Mit mir. Hat gedroht, mir etwas anzutun, wenn sie ein Sterbenswörtchen verriet. Er hatte ihr ja schon bewiesen, wozu er fähig war. Mit dieser Kette fiel es ihm leicht, sie zu erpressen.«
»Und sie musste sich fügen«, sagt Anna leise.
»Mutter hat die seelische Grausamkeit nicht ertragen«, fährt Olli fort. »Dieses Kreuz an Vaters Hals zu sehen und all das andere, das man sich kaum vorstellen kann. Es war zu viel für sie.«
»Sie hat sich also das Leben genommen«, schließt Anna aus diesen Worten. »Man sollte doch meinen, sie hätte deinetwegen durchgehalten.«
»Das hat sie ja auch versucht, aber irgendwann ist bei jedem die Grenze erreicht.«
Sie sitzen eine Weile schweigend da und versuchen sich vorzustellen, in welche Lage Ollis Mutter getrieben wurde, welche Entscheidungen sie treffen musste und wie schwer ihr diese Entscheidungen gefallen sein mögen.
»Vater war allerdings zu weit gegangen«, bricht Olli das Schweigen.
»Zu weit?«
»Ja. Als Mutter sich umgebracht hat. Das hatte er nicht gewollt. Letzten Endes wollte er sie ja behalten. Vielleicht hat er sie trotz allem geliebt, auf seine Art. Jedenfalls hat er alle Fotos von ihr aufbewahrt. Und im Suff hat er manchmal um sie geweint.«
»Eine wüste Geschichte.«
»Vollkommen unbegreiflich.«
Olli weiß, dass alles, was er Anna bisher erzählt hat, reine Spekulation ist. Er hat Schlussfolgerungen aus den Beweisstücken gezogen und sie mit seinen verschwommenen Erinnerungen kombiniert. Doch er ahnt, dass diese Beweise die fehlenden Puzzlesteine in seinem Leben sind. Was er entdeckt hat, macht ihn nicht traurig. Am Anfang hat es ihn erschüttert, aber nachdem er genauer darüber nachgedacht hat, empfindet er sogar eine gewisse Zufriedenheit. Wissen ist oft besser als Ungewissheit. Der Verlust bleibt, die Mutter kommt ebenso wenig zurück wie der Vater, doch jetzt versteht Olli beide besser als je zuvor. Für jede Kränkung, jeden Schlag und jeden Tritt hat sich nun eine Erklärung gefunden und deshalb fühlen sich die Verletzungen nicht mehr so schlimm an. Sie erscheinen Olli verständlich, sogar verzeihbar. Ein erleichterndes Gefühl, als würden ihm selbst die Sünden vergeben.
Hinter allem steht die Liebe. Die Unfähigkeit des Vaters, Liebe anzunehmen und zu verschenken, mit der Liebe umzugehen.
Während seiner Ausbildung an der Polizeischule hat Olli intensiv darüber nachgedacht, warum er sich entschieden hat, Polizist zu werden. Er ist damals zu dem Ergebnis gekommen, dass die Vorsehung ihn gelenkt hat. Dass irgendwo im Labyrinth des Polizeiwesens sein Schicksal auf ihn wartet. Nun hat er eine Bestätigung für
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