Erinnerungen an eine Ehe: Roman (German Edition)
Stimme, die mir bekannt vorkam, die ich aber nicht sofort zuordnen konnte, unterbrach meine Träumerei; sie rief meinen Namen: Philip! Ich drehte mich um und sah eine hochgewachsene schlanke Dame Ende sechzig oder vielleicht Anfang siebzig, erstaunlich gut aussehend, in einem schwarzen Hosenanzug, wahrscheinlich von Armani, und schwarzen Pumps. Eine schwarze Handtasche hing ihr an einer Goldkette von der Schulter. Als mir einfiel, wer sie war, blinzelte ich. Viele Jahre waren vergangen, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Zu viele, um rasch nachzurechnen. Aber ja, sie war es, ohne Zweifel.
Meine Güte, sagte die Dame jetzt, was ist denn mit dir los, kennst du mich nicht mehr? Ich habe dich sofort erkannt, obwohl du mir den Rücken zugedreht hattest. Deine Haare sind weiß geworden, immer noch zu kurz geschnitten, und deine Ohren stehen immer noch ab. Ich hatte keine Ahnung, dass ich mich so verändert habe. Herrgott noch mal, ich bin Lucy Snow. Lucy De Bourgh Snow.
Ich überließ mich meinem Ärger darüber, dass sie so viel lauter als nötig geredet hatte, und zitierte Hubert H. Humphreys Floskel, die er immer verwendete, wenn erFremden, die sich ihm vorstellten, die Hand schüttelte: Natürlich bist du das, und ich freue mich, dich zu sehen.
Das will ich doch hoffen.
Sie klang recht streng.
Was machst du denn hier?, fragte sie weiter. Ich dachte, du hättest New York aufgegeben.
Ganz und gar nicht, erklärte ich ihr. Ich war viel fort, aber ein New Yorker bin ich immer noch. Diesmal bin ich gekommen, um zu bleiben.
Das ist gut, sagte sie, dann kommen wir uns wieder näher.
Dann erzählte sie in rapider Folge, dass sie in der Stadt wohne, aber, da sie noch ihr Haus in Little Compton besitze, auch einen Wohnsitz in Rhode Island habe; dass ihre Eltern beide tot seien, ihre Schwägerin Edie ebenfalls; dass ihr Bruder John nicht wieder geheiratet habe, in dem großen Haus in Bristol wohne und dessen Bedeutung für die Geschichte des Staates noch ernster nehme als die Eltern; und dass man sich noch viel zu erzählen habe. Sodann hörten wir den Gong, der uns zu unseren Plätzen rief. Als wir uns trennten – sie war im ersten Rang und ich im Parkett –, kündigte sie an, sie würde in der nächsten Pause nach mir Ausschau halten.
Ich gab mir Mühe, den Vorgängen auf der Bühne zu folgen – einem Balanchine-Ballett, das ich nicht besonders schätzte –, aber vergeblich. Meine Gedanken schweiften ab, und ich konnte sie nicht daran hindern. Lieber Himmel, Lucy! Nach ihrer Scheidung von Thomas hatte ich sie wohl noch einmal oder zweimal gesehen, Ende des siebziger, Anfang der achtziger Jahre musste das gewesen sein, an mehr erinnerte ich mich nicht. Wahrscheinlich hatte ich überhaupt nur einen Gedanken an sie verschwendet, wenn ich dann und wann, mit einer gewissen Häufigkeit, Thomas traf, allein oder mit seiner neuen Frau, und natürlich, als ich den Nachruf auf ihn las. Alles außer dem Nachruf schien unendlich lange her zu sein. Lucy hätte eine jener Radcliffe-, Smith- oder Vassar-Absolventinnen aus guter Familie sein können, die in den fünfziger Jahren im Anschluss an das College auf der Suche nach einem Ehemann oder einem Traumjob nach New York kamen. Man traf sie auf der Cocktailparty irgendeiner Tante oder Patentante. Meist waren sie attraktiv – Lucy war, je nach Blickwinkel, eine große Schönheit oder eine jolie laide gewesen –, und wenn sie nicht unverzüglich und direkt Eheglück und ein perfektes Familienleben in Bronxville, Scarsdale oder Morristown ansteuerten, wollten sie schreiben. In der Zwischenzeit suchten sie einen Job in einem Buchverlag oder bei Time , LIFE oder der Sunday Evening Post . Leider fanden die Männer, die solche Jobs zu vergeben hatten, dass Mädchen wie sie am besten zum Telefondienst und Kaffeeholen geeignet waren. Die Arbeit für eine Modezeitschrift war eine Alternative und eine gute Möglichkeit, diesem Stereotyp auszuweichen. Lucy entschied sich für diesen Weg. Ein paar Jahre nach Sylvia Plath’ einmonatigem Aufenthalt dort bewarb sie sich mit Erfolg um einen Sommerjob als Gastredakteurin bei Mademoiselle , absolvierte dann das letzte Studienjahr am Radcliffe College und hatte nach dem Examen wieder Geschick oder Glück. Sie verschaffte sich ein einjähriges Praktikum bei der Pariser Vogue , ein Aufstieg, der die angehenden Schriftstellerinnen und Journalistinnen ihres Jahrgangs sicher grün vor Neid werden ließ.
Lucy war offenbar auch in anderer
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