Erinnerungen der Nacht
töten können, ohne sich anzustrengen. Ihm machte Angst, dass er genau dazu fähig wäre, sollte er dazu gezwungen werden.
Einen Moment trübten verschwommene Bilder aus fernster Vergangenheit seine Sicht. Staubschwangere Luft und der Geruch von Schweiß und Blut. Gefallene Männer wie Herbstlaub auf der feuchten braunen Erde. Donnernder Hufschlag, als Pferde ohne Reiter in alle Himmelsrichtungen flohen. Ein Mann, ein Knabe, um ehrlich zu sein, atmete noch. Der niedere Knappe in der schlecht sitzenden Rüstung saß hoch droben auf einem prachtvollen, rassigen Schlachtross. Das Pferd scharrte mit einem Vorderhuf auf dem Boden und schnaubte begierig nach mehr. Die einzige Antwort war Stille. Die Stille des Todes, die allgegenwärtig schien.
Der junge Roland sah das blutige Schwert, die scharlachroten Tränen, die langsam von seiner Spitze tropften. Als der rote Nebel der Raserei sich hob, ließ er die Waffe langsam fallen. Der Magen drehte sich ihm um, als er den Stahlhelm vom Kopf nahm, dann das Kettenhemd auszog und beides auf die Erde warf. Erschüttert betrachtete er das Gemetzel und verspürte in seiner Übelkeit nicht einmal Dankbarkeit dafür, dass ihre Gesichter von Helmen, ihre Verletzungen von Rüstungen verborgen wurden.
Der Knabe war nicht stolz auf das, was er getan hatte. Nein, nicht einmal später, als König Ludwig VII. ihn höchstpersönlich für seinen Heldenmut und seine Tapferkeit zum Ritter schlug. Er verspürte lediglich einen grimmigen und abstoßenden Ekel vor sich selbst.
Denn er hatte das Blutbad genossen.
Roland riss sich zusammen. Dies war nicht die Stunde für Erinnerungen oder Reue. Er rief sich ins Gedächtnis zurück, dass manche Menschen, auch wenn er sie mit Kaninchen verglich, zu einem Höchstmaß an Arglist und Verrat fähig waren. Das wusste er aus Erfahrung. Und wenn der Bericht, den er gerade aus den Staaten bekommen hatte, der Wahrheit entsprach, konnte einer dieser Menschen, der noch verräterischer als die anderen war, nur wenige Meter von ihm entfernt sein. Diese Möglichkeit hatte Roland, seiner selbst auferlegten Einsamkeit zum Trotz, heute Abend in das Dorf geführt.
Sein Plan war einfach. Er würde unerkannt durch die mittelalterlichen Straßen von L’Ombre gehen und ein Gasthaus namens „Le Requin“ besuchen. Dort würde er Augen und Ohren aufsperren. Er würde ihre kaum verschleierten Gedanken lesen und den Eindringling finden, so es ihn denn wirklich gab. Und dann würde er sich seiner annehmen.
Der Nachtwind nahm zu und brachte den Geruch von spät blühenden und abgestorbenen Rosen mit sich, von frisch gemähtem Gras und Alkohol und Rauch hinter der Tür, der er sich gerade näherte. Er blieb stehen, als die Tür aufgerissen und der Geruch durchdringender wurde. Eine Gruppe angetrunkener Touristen stolperte heraus und an ihm vorbei. Roland wich zurück und wandte das Gesicht ab, doch das erwies sich als unnötige Vorsichtsmaßnahme. Sie beachteten ihn gar nicht.
Roland zog die Schultern hoch. Er fürchtete die Menschen nicht wie viele seiner Art. Er fürchtete mehr um sie, sollte er zu einer unerwünschten Begegnung gezwungen werden. Darüber hinaus schien es vernünftig, einen Kontakt zu vermeiden. Sollten die Menschen je erfahren, dass Vampire wirklich existierten, nicht nur in Legenden und Überlieferungen, wäre der Schaden nicht wiedergutzumachen. Frieden wäre unmöglich. Da war es schon besser, sich fernzuhalten, für diese ewig neugierigen Sterblichen ein Mythos zu bleiben.
Als die Tür wieder aufschwang, hielt Roland sie fest und trat hastig ein. Er machte einen Schritt zur Seite und studierte einen Moment die Umgebung. Niedrige runde Tische, ohne ersichtliche Ordnung aufgestellt. Leute drängten sich sitzend oder stehend daran, beugten sich darüber und plauderten belanglos. Die rauchschwangere Luft stand in Kopfhöhe, brannte in den Augen und schmerzte ihn in der Nase. Die Stimmen waren ein konstantes Hintergrundrauschen, in dem das Plätschern von Alkohol und das Klirren von Eis in Gläsern häufig Kontrapunkte bildeten.
Dann ertönte ihr Gelächter deutlicher als alles andere. Tief, heiser und ungehemmt scholl es durch die verrauchte Atmosphäre und schmeichelte seinem Trommelfell. Er ließ den Blick zur Quelle des Geräuschs schweifen, sah jedoch lediglich eine Gruppe Männer, die um Plätze an der Bar buhlten. Er konnte nur vermuten, dass sie den Mittelpunkt dieses Pulks bildete.
Unmöglich, dass er sich durch die Schar ihrer Bewunderer
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