Erlebnisse eines Erdenbummlers
am Tuchrock zu zupfen, weil mich ein starkes Heimweh in die gewohnten Räume unseres Schulhauses zurückzog. Da meinem Drängen keine Folge gegeben wurde, so machte ich mich ohne Begleitung auf den Weg nach Hause. Ich habe späterhin im Leben gefährlichere Wege durch Wüsten und Urwald gemacht als den von Gadern nach Waldmichelbach. Krokodile und Nashörner gibt's da nicht und doch, ich erinnere mich dessen ganz genau, habe ich damals eine unsägliche Angst ausgestanden. Riesen, übermenschlich große Riesen standen nämlich in Hemdsärmeln auf dem Wiesengrund und fütterten Sauerkraut mit eisernen Gabeln. O, wie ich mich fürchtete, an ihnen vorbei zu müssen. Bildete ich mir ein, sie sähen mich nicht, und wagte ich in dieser Annahme ein paar Schritte voran, so änderte irgendeiner der Allgewaltigen die Richtung seiner Schritte und schien direkt auf mich losgehen zu wollen mit einem gezacktenDing auf der Schulter, das todsicher zum Kinderspießen war. O, wie ich mich da entsetzte! So sehr würgte mich die Angst, daß ich nicht einmal fliehen oder aus vollem Halse losbrüllen mochte. Nein, ich konnte nur wie angewurzelt stehen und zittern wie Espenlaub, wenn der Oktoberwind durch die Täler streicht. Wie ich schließlich an den Kinderfressern vorbeigekommen sein mag, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß mir die unheimlichen Knechte mit den aufgeschürzten Hemdsärmeln unauslöschlich im Gedächtnis haften geblieben sind, ja, daß sie zuweilen heute noch durch meine Träume spuken. Woher die Nachhaltigkeit eines solchen Eindruckes? Nun, sie erklärt sich aus der Differenz meiner eigenen Kleinheit gegen einen ausgewachsenen Alltagsmenschen in der Heuernte. Daß ja kein Kleiner ganz verzage! Ihn mag der Gedanke aufrichten, daß er auch schon einmal der Schrecken eines noch Kleineren gewesen ist.
Vielleicht übrigens, daß das Erlebnis sich doch nicht so tief meinem Gedächtnis eingegraben hätte, wenn es nicht in den Erzählungen der Erwachsenen tausendmal wiederholt worden wäre. Aber die Kunde von der sagenhaften Wanderung des Lausbuben im Mädchenrocke wollte und wollte nicht sterben, und sie wurde viele dutzend Male erzählt, wenn die Nachbarsfrauen bei uns an langen Winterabenden hinterm Spinnrad saßen und alles der Meinung war, daß ich in meiner Ecke hinterm Ofen eingeschlafen sei. Warum die Frauen der Nachbarschaft die Spinnräder nun gerade zu uns trugen, diese Erscheinung hing damit zusammen, daß der Lehrer seineStube mit Besoldungsholz heizen konnte, und dann hatte man nebenher doch wohl auch die Absicht, der kranken Lehrersfrau die langen Abende ihres Krankenlagers mit Gesprächen ein wenig zu verkürzen. Bei diesen Unterhaltungen lernte ich frühzeitig etwas, was mancher im ganzen Leben nicht lernt, nämlich das Schweigen. Denn erstens mußte ich mäuschenstill sein, wenn die Zungen so recht ins Tratschen kommen sollten, und zweitens, wohin hätte ich die Freunde unseres Hauses gebracht, wenn ich nicht reinen Mund gehalten und das weitergetragen hätte, was mir über Hinz und Kunz, Richter und Pfarrer und über mich selber gar bekannt geworden war?
»Er wird nicht alt,« hatte eines Abends die Hoffmannsliese gesagt, und sie hatte sich umgeguckt, ob ich schliefe, »weil ihm eine blaue Ader über die Nasenwurzel läuft.«
Und die Kunzefranzehannädelsen hatte beigefügt: »Und weil er auch so gar gescheit ist.«
»Man wollt' ihn gern begraben, denn warum? Ei, so e Kind kummt doch direkt in Himmel nein. Wenn's nur net gar so e grausamer Tod wär, den er sterben müßt',« seufzte die Strickericke.
»Red' so kein Geißedreck daher. Was weißt denn du, an was das Kind stirbt,« ließ die Nahbärbel sich hören.
»Ich weiß es freilich nicht, aber die Zigeunerin. Nicht wahr, Frau Schullehrer, war nicht erst eine neulich hier in der Stube drin, die gesagt hat, der Adam tät im Wasser sterben?«
Als meine Mutter vom Bette aus die Angabe bestätigte, legte die Bärbel ihrerseits los:
»Bleibt mir vom Leib mit den Heidenmenschern! Vor dreißig Jahren hat mir so eine Hexe einen Mann prophezeit, und bis auf den heutigen Tag hab' ich noch keinen. Hätte sie mir einen Schnurrbart unter der Nas' prophezeit, dann hätte sie recht behalten!«
Jetzt lachten alle laut auf, und damit war der Gegenstand der Unterhaltung für heute erschöpft.
Auf mich selber hat die unheimliche Weissagung von meinem Sterben damals wenig Eindruck gemacht. Welche Vorstellung sollte auch ein Kind vom Tode durch Ertrinken haben
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