Erlösung
Finsternis.
Isabel war in ihrem Leben oft deprimiert gewesen. Die Einsamkeit lag wie ein Schatten auf ihr, und dunkle Winterabende hatten sie zu düsteren Gedanken verführt. Im Moment ging es ihr nicht so. Denn nun, wo sie von Rachsucht wie besessen war und Verantwortung für das Leben zweier junger Menschen spürte, wusste Isabel, dass sie leben wollte. Egal, wie schrecklich diese Welt auch sein mochte, sie wusste, dass sie darin ihren Platz finden konnte.
Die Frage war nur, ob das auch für Rachel galt.
Da wandte diese sich ihr zu. »Nun sag schon, Isabel. Was ist passiert?«
»Ich glaube, Rachel, dein Mann hatte einen Schlaganfall.« Vorsichtiger konnte sie es nicht ausdrücken.
Aber Rachel ahnte, dass ein Teil des Satzes unterdrückt in der Luft hing, das spürte Isabel.
»Ist er tot? O Gott, Isabel, ist er tot?«
»Ich weiß es nicht.«
»Was hat der Mann gesagt? Jetzt sag schon, Isabel …« Sie drehte sich abrupt zu ihrer Beifahrerin um und der Wagen begann zu schlingern.
Isabel hob die Hand, um sie Rachel auf den Arm zu legen, unterbrach sich aber selbst in der Bewegung. »Achte auf die Straße, Rachel«, sagte sie. »Im Augenblick geht es nur um deine Kinder. Um sie allein.«
»Nein!« Rachel begann am ganzen Körper zu zittern. »Nein! Das ist nicht wahr! O Muttergottes, sag, dass das nicht stimmt!«
Schluchzend umklammerte sie das Steuer. Kurz hatte Isabel den Eindruck, Rachel würde aufgeben und anhalten, aber dann lehnte sie sich mit einem Ruck zurück und trat das Gaspedal durch.
Am Straßenrand tauchte ein Schild auf,
Lindebjerg Lynge
war darauf zu lesen, aber Rachel dachte gar nicht daran, das Tempo zu verringern. Die Straße leitete sie in einem großen Bogen an einer Häusergruppe vorbei und führte dann wieder durch Wald.
Jetzt, das sah man, fühlte sich der Kerl vor ihnen unter Druck. In einer Kurve geriet sein Wagen ins Schlingern. Rachel beschwor die Gottesmutter, ihr zu vergeben, falls sie gleich Gottes Gebot brach und um der guten Sache willen einen Menschen umbrachte.
»Du bist wahnsinnig!«, schrie Isabel. »Du fährst fast zweihundert!« Einen Augenblick erwog sie, einfach den Schlüssel abzuziehen.
O Gott, nein, dann blockiert die Lenkung, schoss es ihrdurch den Kopf. Also klammerte sie sich, auf das Schlimmste gefasst, mit beiden Händen am Sitz fest.
Als sie zum ersten Mal auf den Mercedes auffuhren, flog Isabels Kopf nach vorn und in einem widerlichen Ruck sofort nach hinten. Aber der Mercedes hielt sich auf der Straße.
»Okay!«, brüllte Rachel. »Das macht dir also keinen Eindruck, du Satan.« Und mit Wucht krachte sie gleich noch einmal gegen die Stoßstange des vorderen Wagens. Ihre Kühlerhaube war jetzt eingedrückt. Diesmal hatte Isabel zwar die Nackenmuskeln angespannt, aber nicht an die gewaltige Kraft des Sicherheitsgurts gedacht.
»Jetzt halt endlich an!«, schrie sie und spürte dabei die Schmerzen im Brustkorb. Aber Rachel hörte nicht. Sie war wie in Trance.
Der Mercedes schlingerte kurz auf den Seitenstreifen, aber sofort griffen die Räder wieder und brachten den Wagen auf die Straße zurück, die für ein paar Meter vom gelblichen Licht eines großen Hofes erhellt war.
Und da passierte es.
Im selben Moment, als Rachel erneut auf den Kofferraum des Wagens auffahren wollte, machte der Mann ein überraschendes Manöver, zog den Wagen auf die linke Spur und stieg in die Bremsen, dass die Reifen quietschten. Der Ford flog vorbei, und nun waren sie plötzlich vorn.
Isabel spürte Rachels Panik, und da es keinen Wagen mehr vor ihnen gab, der die Wucht auffangen konnte, gerieten nun sie ins Schleudern. Die Vorderräder drehten zur Seite, sie korrigierte, bremste ab, aber zu wenig, und im selben Moment war Metall auf Metall zu hören, als der andere in die Seite des Fords krachte.
Entsetzt drehte sich Isabel zu der zersplitterten Seitenscheibe und der Tür um, die weit bis auf den Rücksitz eingedrückt war. Da sah sie den Mercedes noch einmal von hinten auf sie zurasen. Auch wenn der untere Teil seines Gesichts imSchatten lag, erkannte sie ganz deutlich die Augen des Mannes, und ihr kam es vor, als läge ein Ausdruck von Gewissheit darin.
Alles, was nicht hätte passieren dürfen, war eingetreten.
Als er schließlich ein letztes Mal zustieß, verlor Rachel die Kontrolle über den Wagen. Der Rest waren Schmerzen und ein letzter Blick auf die Welt dort draußen in der Dunkelheit.
Stille. Isabel kam kopfüber im Sicherheitsgurt hängend zu sich.
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