Erlösung
dennoch Anspruch auf Entschädigung. Wir sprechen hier von einer Brandversicherung. Nicht von einer Versicherung gegen Hausfäule- und Bauholzpilze.«
»Und wie viel?«
»Tja, sieben- bis achthunderttausend Kronen, würde ich schätzen.«
Assad pfiff anerkennend. »Würde man etwas Neues auf das schlechte Erdgeschoss aufbauen?«
»Das hängt vollkommen vom Versicherungsnehmer ab.«
»Wenn die wollten, könnten sie also alles abreißen?«
»Ja, das wollen sie.«
Carl sah Assad an. Eindeutig, der hatte was am Wickel.
Während sie zum Auto gingen, beschlich Carl das Gefühl, dass sie kurz davor waren, ihre Gegner in der nächsten Innenkurve zu überholen, und dass ihre Gegner diesmal nicht nur die Schurken waren, sondern auch die Mordkommission.
Was für ein Triumph, wenn man denen zuvorkommen könnte!
Den Kollegen, die immer noch auf dem Hof standen, nickte Carl gemessen zu. Er hatte keine Lust, mit denen zu reden. Sollten sie doch selbst rausfinden, was sie wissen wollten.
Assad blieb neben dem Dienstwagen stehen, um das Graffiti näher in Augenschein zu nehmen, das in grünen, weißen, schwarzen und roten Buchstaben auf der schön verputzten Mauer prangte.
Israel raus aus dem Gaza-Straifen. Palästina den Palästinensern
, stand da.
»Die können nicht buchstabieren«, kommentierte er und kletterte ins Auto.
Kannst du es?, dachte Carl. War doch schnurzegal.
Carl startete den Wagen und warf einen Blick auf seinen Assistenten. Der hatte die Augen starr auf das Armaturenbrett gerichtet und war ganz weit weg.
»Hey, Assad, wo bist du gerade?«
In seinem Blick tat sich nichts. »Na, hier, Carl«, sagte er.
Danach wurde auf dem Weg zum Präsidium kein Wort mehr gewechselt.
9
Die Fenster des kleinen Gemeindehauses wirkten wie glühende Metallplatten. Die Trottel hatten also schon angefangen.
Im Vorraum zog er sich den Mantel aus und begrüßte die sogenannten unreinen Frauen. Frauen mit Menstruation mussten dem Jubelgesang von draußen lauschen. Dann trat er ganz leise durch die Doppeltür ein.
Der Gottesdienst war bereits an dem Punkt, wo die Gemeinde endgültig abzuheben begann. Er hatte mehrfach daran teilgenommen, das Ritual war immer gleich. Jetzt stand der Pfarrer im selbst genähten Ornat vor dem Altar und bereitete den »Lebenstrost« vor, wie sie das Abendmahl nannten. Bald würden sich alle, Kinder wie Erwachsene, auf sein Geheiß hin erheben und mit trippelnden Schritten und gesenkten Köpfen in ihren unschuldig-weißen Hemden aufeinander zugehen.
Dieser Gang zum Altar war der Höhepunkt der Woche. Da reichte in Gestalt des Pfarrers die Gottesmutter höchstpersönlich der Gemeinde den Kelch und das Brot dar. Bald würden alle im Muttersaal einen Freudentanz beginnen und in endlosen Wortkaskaden die Gottesmutter lobpreisen, die mithilfe des Heiligen Geistes Jesus Christus das Leben geschenkt hatte. Der Mund würde ihnen übergehen, sie würden für alle ungeborenen Kinder beten, einander umarmen und sich die Sinnlichkeit ins Gedächtnis rufen, mit der sich die Gottesmutter dem Herrn hingab, und noch eine Menge mehr in der Tonart.
Der reinste Nonsens, wie so vieles andere, das dort drinnen vor sich ging.
Er schlich schnell zur rückwärtigen Wand und blieb dort imHintergrund stehen. Andächtig lächelte man ihm zu. Alle sind willkommen, besagte das Lächeln. Und wenn die Schar sich binnen kurzem der Ekstase hingab, würde sie dafür danken, dass es ihn zur Gottesmutter hinzog und er zu ihnen gekommen war.
Derweil betrachtete er die Familie, die er ausgesucht hatte. Vater und Mutter und fünf Kinder. In diesen Kreisen war die Kinderschar selten kleiner.
Hinter den beiden großen Jungen und teilweise von ihnen verdeckt stand ihr graumelierter Vater und vor ihnen die drei Mädchen, die mit offenem, schwingendem Haar rhythmisch hin und her wankten. Ganz vorn im Kreis, zwischen den anderen erwachsenen Frauen, stand ihre Mutter, die Lippen geöffnet, die Augen geschlossen, die Hände ruhten lose auf den Brüsten. Alle Frauen standen so. Der Umgebung entrückt, schwankend, im kollektiven Bewusstsein der Nähe der Gottesmutter.
Die meisten der jungen Frauen waren schwanger. Eine von ihnen war so kurz vor der Geburt, wie man überhaupt nur sein kann, und ihr Hemd an der Brust war fleckig von der aussickernden Milch.
Die Männer betrachteten diese fruchtbaren Wesen verzückt. Denn bis auf die Zeit der Menstruation war der Frauenkörper für die Jünger der Gottesmutter das Heiligste
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