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Erlösung

Erlösung

Titel: Erlösung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jussi Adler-Olsen
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des Vaters auf denen des Sohns. Die Hände der Eltern schienen die Kinder regelrecht zu Boden zu drücken.
    Sie versuchte, den Jungen mit den altklugen Augen zu verstehen, der ihr Mann geworden war. Das war nicht leicht. Denn es lagen so viele Jahre zwischen ihrem Leben und seinem, das spürte sie deutlicher denn je.
    Dann packte sie die Kartons mit den Fotos zusammen und öffnete die Sammelbücher. Es wäre besser gewesen, wenn sie und ihr Mann sich nie begegnet wären, das war ihr inzwischen klar. Sie war auf die Welt gekommen für einen Mann wie jenen, der fünf Straßen weiter lebte. Mit ihm sollte sie eigentlich das Leben teilen. Nicht mit dem Mann, dessen Familie und Vergangenheit sie hier entdeckte.
    Sein Vater war Pfarrer gewesen, das hatte er ihr nie erzählt. Aber das ging aus mehreren Fotos eindeutig hervor.
    Ein Mann, der nicht lächelte und dessen Augen Selbstbewusstsein und Macht ausstrahlten.
    Anders die Augen der Mutter. Sie drückten nichts aus.
    Die Beiträge in diesen Sammelbüchern ließen ahnen, warum.Dieser Vater kontrollierte offenbar alles. Da gab es Kirchenblätter, in denen er gegen Gottlosigkeit wetterte, andere, in denen er die Ungleichheit der Geschlechter predigte, oder solche, in denen er sich gegen menschliche Existenzen wandte, die in ihrem Leben Dummheiten begangen oder einfach Pech gehabt hatten. Der rote Faden all dieser Pamphlete war das Wort Gottes, an das er sich klammerte und das er nur losließ, um es den Ungläubigen entgegenzuschleudern. Ja, ihr Mann und sie waren wahrlich unter sehr unterschiedlichen Bedingungen aufgewachsen, davon zeugten diese Schriften nur zu deutlich.
    Eine geradezu widerwärtige Atmosphäre aus Vaterlandsverherrlichung, Intoleranz, aus abgrundtiefem Konservatismus und Chauvinismus sprang sie aus den vergilbten Schmähschriften an. Selbstverständlich handelte es sich um den Vater und nicht um ihren Mann. Und dennoch. Jetzt im Moment konnte sie spüren, wie der Fluch der Vergangenheit eine Finsternis in ihm geschaffen hatte, die nur dann ganz verschwand, wenn er mit ihr schlief. Und wenn sie näher darüber nachdachte, dann hatte sie das unbewusst vielleicht schon immer gespürt.
    Alles in allem musste an dieser Kindheit etwas total verkehrt gewesen sein. Wann immer ein Name oder ein Ort angegeben waren, hatte jemand diese Angaben mit Kuli durchgestrichen. Und wie es schien, immer mit demselben Kugelschreiber.
    Wenn sie das nächste Mal in die Bibliothek kam, wollte sie versuchen, Benjamins Großvater zu googeln. Aber auch hier, zwischen all diesen Fragmenten aus der Vergangenheit, mussten sich doch noch weitere Hinweise auf diesen autoritären, voreingenommenen Menschen finden lassen.
    Vielleicht konnte sie ja mit ihrem Mann darüber sprechen. Vielleicht würde das ihre Beziehung entspannen.
    Sie öffnete ein paar Schuhkartons, die in einem der Umzugskartonsgestapelt waren. Zuunterst lagen verschiedene Dinge von mäßigem Interesse, unter anderem ein Ronson-Feuerzeug. Sie probierte es aus und war erstaunt, dass es tadellos funktionierte. Manschettenknöpfe, ein Papiermesser und Büroartikel, wahrscheinlich alles aus derselben Lebensphase.
    Die übrigen Schuhkartons enthüllten eine ganz andere Zeit. Zeitungsausschnitte, Broschüren und politische Pamphlete. Mit jedem Karton kamen andere, neue Fragmente aus dem Leben ihres Mannes ans Licht, und zusammen formten sie das Bild eines zutiefst erniedrigten und verletzten Menschen, der sich gleichermaßen zum Spiegelbild wie zum Gegenpol seines Vaters entwickelte. Ein Jugendlicher, der unwillkürlich die entgegengesetzte Richtung zu den Lehren seiner Kindheit einschlug. Ein Halbwüchsiger, der statt Reaktion Aktion wählte. Ein Mann, der auf die Barrikaden ging, der alles Totalitäre unterstützte, alles, das nichts mit Religion zu tun hatte. Der den Lärm der Vesterbrogade suchte, wenn sich die Hausbesetzerszene versammelte. Der den Matrosenanzug mit dem Lammfellmantel tauschte, mit der Armeejacke und dem Palästinensertuch. Und der gegebenenfalls schnell das Tuch vors Gesicht zog.
    Er war ein Chamäleon, das genau wusste, in welche Farben es sich wann hüllen wollte. Das begriff sie erst jetzt.
    Einen Augenblick stand sie vor den Kartons und erwog, die Kisten wieder einzuräumen und einfach auszublenden, was sie gesehen hatte. Schließlich lagerten in diesen Kartons Dinge, die auch er offenkundig vergessen wollte.
    Hatte er nicht in gewisser Weise einen Schlussstrich unter sein früheres Leben ziehen

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