Erlösung
Grunde nur von den wenigen gemeinsamen Stunden, die sie zusammen hier im Haus verbracht hatten. Was wusste sie sonst von ihm? Seine Arbeit, seine Vergangenheit, all die Kartons dort im ersten Stock hielt er von ihr fern.
Aber es war eine Sache, seine Gefühle zu verlieren. Eine ganz andere war es, dies zu rechtfertigen, nicht zuletzt vor sich selbst. Denn war er etwa nicht gut zu ihr, ihr Mann? Lag es nicht vielmehr an ihr, an ihrer gegenwärtigen Verblendung, dass sie nichts mehr sah?
Diese Gedanken wirbelten ihr unablässig durch den Kopf. Und deshalb ging sie wieder in den ersten Stock hinauf und stand wieder vor der Tür, hinter der sich die Umzugskartons befanden. War jetzt der Zeitpunkt gekommen, um die Grenze zu überschreiten und sich Klarheit zu verschaffen? War jetzt der Punkt gekommen, von dem aus es keinen Weg mehr zurück gab?
Ja.
Sie zog die Umzugskartons einen nach dem anderen auf den Flur hinaus und baute sie in umgekehrter Reihenfolge auf. Wenn sie die Kartons später zurückstellte, mussten sie in genau derselben Ordnung stehen wie vorher, und obenauf kamen die Mäntel. Nur so konnte sie die Kontrolle über das Projekt behalten.
Hoffte sie.
Die ersten zehn Umzugskartons, die hinterste Reihe unter dem Velux-Fenster, bestätigten, was ihr Mann gesagt hatte: lauter alter Familienkrempel, Sachen, die er sich wohl kaum selbst angeschafft hatte. Typische Erbstücke, genau wie das Zeug, das ihre Großeltern der Familie hinterlassen hatten: verschiedene Porzellanteile, allerhand Papiere, Wolldecken, Spitzendecken, ein Essservice für zwölf Personen, Zigarrenschneider, Konsolenuhren und diverser anderer Nippes.
Das Bild eines vergangenen Familienlebens, das nun dem Vergessen anheimfiel. So hatte er es ihr beschrieben.
Doch aus den nächsten zehn Kartons traten Details zutage, die einen verwirrenden Schleier über dieses Bild legten. Hier tauchten die vergoldeten Bilderrahmen auf. Sammelbücherund Ausgeschnittenes. Alben, in denen Souvenirs und Berichte über verschiedenste Ereignisse eingeklebt waren. Alles aus seiner Kindheit. Und über allem lag der Ruch von Lüge, Verheimlichen und Verschweigen, denn ganz anders, als er immer behauptet hatte, war ihr Mann offenbar kein Einzelkind. Nein, es konnte überhaupt kein Zweifel daran bestehen, dass er eine Schwester hatte.
Eines der Fotos zeigte ihren Mann im Matrosenanzug, wie er, die Arme vor der Brust verschränkt, mit traurigen Augen in die Kamera starrte. Höchstens sechs, sieben Jahre alt. Weiche Haut, das volle Haar streng zur Seite gescheitelt. Neben ihm stand ein kleines Mädchen mit langen Zöpfen. Sie lächelte unschuldig. Vielleicht wurde sie zum ersten Mal in ihrem Leben fotografiert.
Es war ein schönes kleines Foto von zwei sehr verschiedenen Kindern.
Sie drehte das Foto um und betrachtete die drei Buchstaben.
EVA
, stand da. Ursprünglich hatte da noch mehr gestanden, aber das war mit Kugelschreiber durchgestrichen.
Sie blätterte die Fotos durch und drehte jedes einzelne um. Immer wieder Durchgestrichenes.
Keine Namen, keine Ortsangaben.
Alles war durchgestrichen.
Warum streicht man Namen durch?, dachte sie. Dann sind die Menschen ja auf immer und ewig weg.
Wie oft hatte sie bei sich zu Hause gesessen und alte Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Menschen ohne Namen angeschaut.
»Das ist deine Urgroßmutter, sie hieß Dagmar«, sagte ihre Mutter dann vielleicht. Aber es stand nirgends geschrieben. Und wenn ihre Mutter tot war, was passierte dann mit den Namen? Wer erinnerte sich dann noch, wo und wann die Leute geboren waren?
Aber dieses Mädchen hier hatte einen Namen. Eva.
Mit Sicherheit die Schwester ihres Mannes. Augen und Mund, ganz dieselben. Auf zwei der Fotos, auf denen nur sie beide abgebildet waren, stand sie neben ihrem Bruder und blickte bewundernd zu ihm auf. Es war rührend.
Eva sah wie ein ganz gewöhnliches Mädchen aus. Blond und ordentlich gekämmt. Nur ihr Blick war nicht gewöhnlich. In ihm lag mehr Kummer als Tapferkeit. Eine Ausnahme bildeten da lediglich die zwei ersten Fotos.
Wenn der Bruder, die Schwester und die Eltern gemeinsam abgebildet waren, standen sie so dicht zusammen, als schirmten sie sich gegen den Rest der Welt ab. Sie fassten sich nie an, sie standen nur einfach sehr dicht beieinander. Auf manchen dieser Fotos standen die Kinder vorn, die Eltern dahinter. Die Kinder ließen die Arme hängen, die Hände der Mutter ruhten – nein, sie lasteten förmlich – auf den Schultern der Tochter, die
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