Erlösung
dermaßen in Schwingung, dass sich jeder Gedanke an die Flasche in den scharfen blauen Blitzen verlor, die sein gemartertes Nervensystem aussandte.
Und so stand die Flasche sehr, sehr lange unbeachtet in der sonnigen Ecke der Fensterbank. Niemand nahm Notiz von ihr, und niemanden kümmerte es, dass das Sonnenlicht unddas Kondenswasser, das sich allmählich auf der Innenseite des Glases bildete, dem Papier im Flascheninneren immer stärker zusetzten.
Niemand nahm sich die Zeit, die oberste Zeile des leicht verwischten und verblassenden Textes zu lesen, und deshalb fragte sich auch niemand, was das Wort »HJÆLP« womöglich bedeuten könnte.
Die Flasche gelangte erst wieder in Menschenhände, als so ein Scheißkerl, der sich über einen Bußgeldbescheid wegen Falschparkens aufregte, eine Sintflut von Viren auf das Intranet der Polizeiwache Wick losließ. In solchen Situationen rief man die ED V-Expertin Miranda McCulloch an. Vor ihr ging man immer dann auf die Knie, wenn Pädophile ihre Schweinereien verschlüsselten, wenn Hacker die Spuren ihrer Transaktionen beim Online-Banking verschleierten, wenn gekündigte Arbeitnehmer die Festplatten ihrer Firmen löschten.
Als Miranda McCulloch kam, wurde ihr wie einer Königin aufgewartet. Sie bekam ihr eigenes Büro, in dem schon eine Thermoskanne mit heißem Kaffee bereitstand, das Fenster weit aufgerissen und das Radio auf BBC Scotland eingestellt war.
Und da der Wind die Gardine vor dem Fenster bauschte, entdeckte sie die Flasche gleich an ihrem ersten Tag in dem Büro.
Was für eine schöne kleine Flasche, dachte sie und wunderte sich kurz über den Schatten im Innern, bevor sie sich weiter durch die Zahlenkolonnen der aggressiven Codes pflügte. Als sie sich am dritten Tag zufrieden von ihrem Platz erhob und ans Fenster trat, meinte sie, die Virustypen erfolgreich identifiziert zu haben. Sie nahm die kleine Flasche in die Hand und stellte überrascht fest, dass sie viel schwerer war als erwartet. Und warm fühlte sie sich an.
»Was ist denn da drin?«, fragte sie die Sekretärin nebenan. »Ist das ein Brief?«
»O Gott, die Flasche«, kam die Antwort. »Die hat, glaube ich, David Bell da mal hingestellt. Vermutlich nur so, in Gedanken. Wieso, was soll da drin sein?«
Miranda hielt die Flasche ins Licht. Waren das Buchstaben auf dem Zettel? Wegen des Kondenswassers auf der Innenseite war das schlecht zu erkennen.
Sie drehte und wendete die Flasche eine Weile. »Wo ist denn dieser David Bell, arbeitet der hier auf dem Revier?«
Die Sekretärin schüttelte den Kopf. »Leider nein. David ist vor ein paar Jahren etwas außerhalb von Wick ums Leben gekommen. Sie hatten einen Wagen verfolgt, dessen Fahrer Fahrerflucht begangen hatte. Schreckliche Geschichte. David war so ein netter Kerl.«
Miranda nickte. Sie hörte nur mit einem Ohr zu. Inzwischen war sie sicher, dass da etwas auf dem Papier stand. Aber das war es nicht, was ihre Aufmerksamkeit erregte, sondern das, was sich da am Flaschenboden befand.
Eine geronnene Masse, die verdammt nach Blut aussah.
»Glaubst du, ich darf die Flasche mitnehmen? Gibt es hier jemanden, den ich fragen kann?«
»Frag Emerson. Er ist ein paar Jahre lang mit David gefahren. Der sagt bestimmt Ja.« Die Sekretärin wandte sich zum Flur um. »Hey, Emerson«, rief sie in einem Ton, dass die Scheiben klirrten. »Komm doch mal.«
Miranda begrüßte einen kompakten, gutmütig aussehenden Kerl mit traurigen Augen.
»Ob du die mitnehmen darfst? Na klar doch. Ich will jedenfalls nichts damit zu tun haben.«
»Wie meinst du das?«
»Na ja, vielleicht ist das nur dummes Zeug. Aber unmittelbar bevor David verunglückte, war ihm die Flasche wieder in den Sinn gekommen, und er hatte gemeint, er müsse sich endlich mal darum kümmern, dass sie geöffnet würde. Er hatte sie von einem Fischerlehrling oben in dem Dorf, woer herkommt. Der Junge und der Kutter waren einige Jahre später mit Mann und Maus abgesoffen. Deshalb fand David wohl, er sei es dem Jungen schuldig, nachzusehen, was sich da drin befand. Aber David starb ja, ehe er dazu gekommen war. Und das ist doch bestimmt kein gutes Omen, oder?« Emerson schüttelte den Kopf. »Nimm sie mit, aber ich sag’s dir gleich: An der Flasche hängt nichts Gutes.«
Am selben Abend saß Miranda in ihrem Reihenhaus in Edinburghs Vorort Granton und starrte die Flasche an. Circa fünfzehn Zentimeter hoch, leicht bläulich, etwas abgeflacht und mit langem Hals. Könnte ein Parfumflakon
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