PR 2661 – Anaree
Prolog
Die Ruhe vor dem Holo
Alles war ruhig. Fast unnatürlich ruhig.
Perry Rhodan sah auf das Holo in der Zentrale von MIKRU-JON. Leuchtende Ziffern zeigten die Terrania-Standardzeit. In der Hauptstadt der Liga Freier Terraner war es kurz vor Mitternacht. In ein paar Minuten würde der 19. November 1469 NGZ anbrechen.
Rhodan fragte sich, was in diesem Augenblick auf seiner Heimatwelt geschah. Terra war verschwunden, mit dem gesamten Solsystem entführt worden, und ihn hatte es in die ferne Galaxis Chanda verschlagen. Im Reich von QIN SHI wurde er von einem Ereignis zum anderen gehetzt. Wie sollte er die Initiative ergreifen, das Heft des Handelns in die Hand nehmen, ohne jede Unterstützung, ohne jede Machtbasis? Wie konnte er mit einem Raumschiff etwas gegen die parasitäre Superintelligenz unternehmen, die ganz Chanda terrorisierte?
Vielleicht bietet die Flotte im Kalten Raum uns die Möglichkeit, gegen QIN SHI vorzugehen, dachte Rhodan. Vielleicht kann Ramoz ...
»Ich glaube, mir ist es gelungen, etwas zu ... öffnen«, riss Ennerhahl ihn aus seinen Gedanken. Der zwei Meter große Humanoide mit den beneidenswerten Proportionen erhob sich von seinem Pult und hielt Rhodan einen Kristall hin.
Er und Gucky hatten das Sternjuwel untersucht, jenen blauweiß funkelnden, reich facettierten Saphir von etwa anderthalb Zentimetern Durchmesser, den Nemo Partijan aus der Leiche der Kosmokratenbeauftragten Samburi Yura geborgen hatte, die vor ihren Augen gestorben und geradezu zerflossen war.
Wobei Rhodan gewisse Zweifel hegte, was die Echtheit des Juwels betraf.
Froh um die Ablenkung, griff Rhodan nach dem Kristall – zum ersten Mal, seit er ihn gefunden hatte, mit der nackten Hand.
Der Schlag traf ihn mit unvermuteter körperlicher Wucht. Er hatte den Saphir nicht einmal berührt, doch das Juwel schien nur auf einen direkten Kontakt gewartet zu haben. Rhodan glaubte, dass seine Nerven plötzlich in Flammen stünden.
Du trägst einen Vitalenergie-Speicher!, hörte er unvermittelt eine Stimme in seinem Kopf. Auf dich habe ich gewartet!
Bevor Rhodan reagieren konnte, bildete sich eine Gestalt vor ihm.
Das habe ich doch schon mal erlebt ...! Vor einem Tag, als sich ihm an Bord der Werft ein Hypergespinst genähert hatte. Er hatte um sein Leben gefürchtet, doch das Gespinst war zusammengebrochen. Zum Vorschein war eine schlanke, humanoide Gestalt von 1,70 Metern Größe und unbestimmbarem Alter gekommen.
Genau wie damals bemerkte Rhodan nun zuerst die riesengroßen schwarzen Augen. Sie erinnerten ihn an den bodenlosen Abgrund eines Zeitbrunnens. Das Gesicht der Frau war makellos und fein geschnitten. Ihre Miene atmete auf eine nicht definierbare Weise Trauer, selbst wenn sich kein Muskel regte.
Sie trug als Gewand eine Art knöchellangen Chiton, der aus zwei viereckigen, an den Schultern von Fibeln zusammengehaltenen und in der Taille gegürteten Stoffbahnen bestand. Als Rhodan auf das seidig fließende Gewebe schaute, glaubte er sich im Weltraum zu verlieren, in eine matt funkelnde Szenerie wie am Rand einer Galaxis zu sehen, wobei die Falten zu Raum-Zeit-Falten oder Schwarzen Löchern wurden.
Er war dieser Frau nie persönlich begegnet, erkannte sie aber sofort aus Beschreibungen Alaskas und Kantirans.
Diese Frau war Samburi Yura. Die Enthonin, die in den Dienst der Kosmokraten getreten war, um die Existenz der Friedensfahrer zu sichern.
Nein, dachte Rhodan voller Entsetzen. Die Zeit läuft zurück. Meine Gedanken sind in einem Kreislauf gefangen. Ich habe sie schon einmal gedacht ...
Das Holo bewegte sich, öffnete den Mund. »QIN SHI ist erwacht«, sagte die Enthonin. »Das BOTNETZ steht bereit.«
Dann wurde Rhodan bewusst, dass nicht die Duplizität der Ereignisse die eigentliche Gefahr darstellte, sondern die Präsenz, die er plötzlich in dem Holo spürte. Er konnte sie nicht beschreiben, doch sie war vorhanden und griff aus dem Juwel nach ihm.
Sie überwältigte ihn, zog sein Bewusstsein mit unwiderstehlicher Kraft in das Juwel.
Gucky!, dachte er verzweifelt. Erkennst du nicht, was hier geschieht? Hilf mir!
Aber der Mausbiber saß einfach da und schaute gelangweilt drein. Er schien nicht mitzubekommen, was sich vor seinen Augen ereignete.
Rhodan wollte schreien, konnte es aber nicht. Konnte keinen Widerstand leisten, konnte nichts tun.
Nichts.
Er verlor sich in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort.
1.
Der Baum
Fünf, dachte Anaree. Tara hat gesagt, ich bin fünf Jahre alt, aber
Weitere Kostenlose Bücher