Erlösung
hinunter. Vielleicht befanden sich die verschwundenen Akten ja dort. Als er ihr Büro betrat, traf ihn fast der Schlag: Tatsächlich sprangen ihm die Unterlagen sofort entgegen – allerdings nicht als Aktenstapel, sondern quasi als Tapete. Mindestens zehn Holzfaserplatten bedeckten die Wand zwischen Assads und Roses Büros, und diese Plattenwaren zugepflastert mit allen Fällen, die bis vor vierzehn Tagen noch auf seinem Schreibtisch gelegen hatten.
Eine Stehleiter aus gelblichem Lärchenholz zeigte an, wo der letzte Fall angepinnt worden war. Es war der zweite Fall, den sie hatten aufgeben müssen. Der zweite der ungelösten Fälle in Folge.
Carl trat einen Schritt zurück, um sich einen Überblick über diese Papierhölle zu verschaffen. Was zum Teufel hatten seine Fälle an dieser Wand zu suchen? War bei Rose und Assad eine Sicherung durchgeknallt? Waren sie deshalb verduftet?
Feiges Pack.
Im zweiten Stock war es genau dasselbe. Keine Menschenseele. Sogar Frau Sørensens Platz hinter der Theke war gähnend leer. Das Büro des Chefs, das des Stellvertreters, die Kaffeeküche, der Konferenzraum: nichts.
Was war denn verdammt noch mal hier los? Hatte es Bombenalarm gegeben? War die Polizeireform inzwischen so weit gediehen, dass man das Personal auf die Straße gesetzt hatte, um die Gebäude meistbietend zu verkaufen? War der neue Justizminister Amok gelaufen?
Er kratzte sich am Hinterkopf, griff nach dem Hörer und rief die Wache an.
»Carl Mørck hier. Wo zum Teufel sind die Kollegen hin verschwunden?«
»Die meisten haben sich im Gedenkhof versammelt.«
»Im Gedenkhof? Wieso denn das? Meines Wissens gedenken wir der Internierung der dänischen Polizei am 19. September. Das ist noch mehr als ein halbes Jahr hin. Was wollen die denn alle da?«
»Die Polizeipräsidentin möchte einigen Dezernaten die Reformanpassungen erläutern. Du musst schon entschuldigen, Carl, aber wir dachten, das wüsstest du.«
»Ja, aber ich hab doch gerade mit Frau Sørensen gesprochen, die hat keinen Ton gesagt.«
Carl schüttelte den Kopf. Das war doch total durchgeknallt. Bis er unten im Hof war, hatte das Justizministerium den ganzen Kram doch schon wieder geändert.
Er starrte den Sessel des Chefs der Mordkommission an. Verlockend weich. Dort konnte man zumindest mal ohne Zuschauer die Augen schließen.
Zehn Minuten später wachte er auf. Lars Bjørn, der stellvertretende Leiter der Mordkommission, hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt. Assads Kulleraugen lächelten nur zehn Zentimeter vor seinem Gesicht.
Schluss mit dem Frieden, aus und vorbei.
»Komm, Assad«, sagte er und drückte sich aus dem Sessel hoch. »Wir gehen runter in den Keller und holen ruckzuck die Papiere von den Wänden, ja? Wo ist eigentlich Rose?«
Assad schüttelte den Kopf. »Das geht nicht, Carl.«
Carl stopfte sich das Hemd in die Hose. Verdammt, was sagte der Mann da? Natürlich ging das. Hatte er, Carl, etwa nicht das Sagen?
»Nun komm schon. Und bring Rose mit. Und zwar JETZT.«
»Der Keller ist ab sofort gesperrt«, belehrte ihn Lars Bjørn. »Aus der Isolierung der Rohre rieselt Asbest. Die Gewerbeaufsicht war da. So sieht es aus.«
Assad nickte. »Ja. Wir mussten unsere Sachen hier hochbringen. Und wir sitzen in diesem Raum natürlich nicht besonders gut. Aber für dich haben wir einen schicken Stuhl aufgetrieben«, ergänzte er, als ob das ein Trost wäre. »Ach ja, und wir sind nur zu zweit. Rose hatte keine Lust, hier oben zu sitzen, deshalb hat sie ein verlängertes Wochenende eingelegt. Sie kommt aber nachher noch.«
Genauso gut hätten sie ihm in seine edleren Körperteile treten können.
2
Sie hatte in die Flammen gestarrt, bis die Kerzen heruntergebrannt waren und Dunkelheit sie umgab. Er war schon öfter einfach weggefahren, aber noch nie an ihrem Hochzeitstag.
Sie holte tief Luft und stand auf. Inzwischen hatte sie es sich abgewöhnt, am Fenster zu stehen und zu warten und seinen Namen auf die von ihrem Atem beschlagene Scheibe zu schreiben.
Es hatte nicht an Warnungen gefehlt, damals, als sie sich kennengelernt hatten. Ihre Freundin hatte vorsichtige Zweifel geäußert, und ihre Mutter hatte es ihr unumwunden gesagt. Er sei zu alt für sie. In seinen Augen funkele etwas Böses. Er sei ein Mann, den man nicht einschätzen könne. Ein Mann, auf den kein Verlass sei.
Deshalb hatte sie ihre Mutter und ihre Freundin schon lange nicht mehr gesehen. Und deshalb wuchs in dem Maße, in dem ihr Bedürfnis nach
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