Ernten und Sterben (German Edition)
eins
Die Sonne stand blutrot am Horizont. Albertine von Krakow saß auf ihrer Veranda und genoss das Spektakel. Neben ihr schlürfte ihr Nachbar Hubertus Müller sein Petersiliensüppchen.
»Wenn ich’s nicht besser wüsste, würde ich dich als Banausen bezeichnen«, sagte sie mit sanfter Ironie und setzte die frisch geputzte Hornbrille auf. Ein klein wenig Manieren waren doch wohl nicht zu viel verlangt.
»Rote Bete …«, setzte Hubertus an, biss sich jedoch sofort auf die Zunge. Denn mit Clementine war nicht zu spaßen – die Haushälterin führte ein strenges Regiment und war immer zur Stelle, wenn an ihren Speisen auch nur die kleinste Kritik geübt wurde.
»Nein, es fehlt keine Rote Bete. Du willst uns nur wieder deine Ernte aufschwatzen«, konstatierte Albertine dann auch prompt mit leicht blasiertem Unterton.
»Und dann sind die auch noch meistens holzig«, warf Clementine ein, die lautlos wie ein Geist aufgetaucht war. »Darf es noch ein Gläschen Château Pech-Latt Rouge sein? Sie kennen doch das Languedoc wie Ihre Westentasche, Herr Müller.«
»Sie können jetzt Feierabend machen«, sagte Albertine. »Vielen Dank für den köstlichen Imbiss. Sie haben uns wie immer eine wunderbare Kleinigkeit gezaubert. Allerdings muss Hubertus auf seine Leber achten. Ist es nicht so, mein Guter?« Sie tätschelte Hubertus’ linken Arm und setzte ihr Landadel-Lächeln auf.
Inzwischen war die Sonne fast verschwunden, und auch die Vögel beendeten allmählich ihr Konzert. Stille legte sich über das Ambiente wie ein samtenes Tuch.
»In der Freundschaft dagegen herrscht eine allgemeine Wärme, die den ganzen Menschen erfüllt und die außerdem immer gleich wohlig bleibt; eine dauernde stille, ganz süße und ganz feine Wärme, die nicht sengt und nicht verletzt«, zitierte Hubertus den Philosophen Montaigne und blickte versonnen in sein Rotweinglas, als würde sich auf seinem Boden nicht der Geist des Weines, sondern eine tiefere Erkenntnis verbergen.
Albertine verkniff sich jede Bemerkung, denn sie kannte diese intellektuellen Annäherungsversuche zur Genüge. Dabei sah Hubertus alles andere als vergeistigt aus. Die einem Zinken ähnelnde hochrote Nase zeugte vom regelmäßigen Konsum geistiger Getränke. Vielleicht trug er wegen dieses hochprozentigen Genusses auch eine Brille, deren Gläser dick waren wie Glasbausteine.
Das rundliche Gesicht war gerahmt von einem dichten Vollbart, der im harten Kontrast zu seiner Vollglatze stand. Insgesamt war Hubertus mit dem Gardemaß von zwei Metern plus x eine imposante Erscheinung.
Albertine konnte der Gegenwart ihres Nachbarn durchaus positive Seiten abgewinnen, allerdings raubte ihr seine Belesenheit gelegentlich den letzten Nerv. Vielleicht lag es aber auch daran, dass er sein Grundstück nur selten verließ, Clementine immer wieder für Botengänge wie zum Beispiel Einkäufe einspannte und auch sonst den Müßiggang höchstpersönlich erfunden zu haben schien. Dabei war Hubertus Müller ein vorgeblich viel beschäftigter Antiquar. Es musste wohl der Fluch des Internets sein. Heutzutage wurde alles online abgewickelt, und keiner lernte mehr den Kunden kennen.
»Hast du wieder etwas Bibliophiles von deinem Hausheiligen Montaigne verkaufen können?«
»Nein, nein. So langsam quillt mein Lager über, und der Markt ist offenkundig gesättigt«, lamentierte Hubertus.
»Aber richtig unzufrieden wirkst du nicht«, meinte Albertine.
Ein Lächeln glitt über Hubertus’ bärtiges Gesicht. »Meine Ausgabe von Frances Hodgson Burnetts ›Secret Garden‹ hat glatte eintausendneunhundertneunundneunzig Euro eingebracht. Morgen kommt der Kunde höchstpersönlich aus Hamburg, um das gute Stück abzuholen.«
»So einen Zaubergarten hätte ich auch gern«, antwortete Albertine.
»Kennst du die Geschichte?«
»Ich hab den Film mit dem sensationell gut aussehenden John Lynch als Lord Craven gesehen.« Albertine lächelte gedankenverloren in die Abenddämmerung.
»1993, unter der Regie von Agnieszka Holland, mit einem Drehbuch von Caroline Thompson …« Wie immer versuchte Hubertus, mit seinem Wissen zu glänzen.
»Ruhe jetzt, Mr. Wikipedia! Genieße die letzten Minuten in Gottes herrlicher Natur«, befahl ihm Albertine.
»Morgen wird ein anstrengender Tag, was? Musst du wieder im Akkord Knochen brechen?«
»Man nennt es Chiropraktik, und ja, die Liste der Patienten ist lang. Zwischendurch sind reichlich Hausbesuche terminiert, und dazu kommen natürlich noch die üblichen
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