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Erwachen

Erwachen

Titel: Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Kenner
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ankuschelten. Ich erkannte das Gesicht, das zu Alice gehörte. Beziehungsweise zu mir. Die andere wirkte älter, sah uns aber sehr ähnlich. Vermutlich eine Schwester. Ernster Blick, braune Augen mit langen Wimpern, hohe Wagenknochen. Die dichten schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Fest zusammengepresste Lippen, die wild entschlossen schienen, nicht zu lächeln, während Alice mit einem Ausdruck der Belustigung für die Ewigkeit festgehalten wurde.
    Wer war diese ernste Frau? Ich starrte ihr in die Augen, dachte an Rose und suchte nach Antworten. Die fand ich erst, als ich praktisch an das Ganze heranging und das Foto aus dem Rahmen zog. Auf der Rückseite stand in schöner Handschrift, die vermutlich von einem Elternteil stammte: Alice und Rachel kuscheln mit Asphalt. Kein Jahr. Kein hilfreicher Hinweis wie etwa »Schwester« oder »Cousine«. Tränen schössen mir in die Augen. Irgendwo da draußen lebten Alice’ Verwandte, die keine Ahnung hatten, was mit ihr geschehen war.
    Genau wie mein Stiefvater. Wie Rose.
    Aufgewühlt warf ich das Bild auf das Bett, stand auf und ging zum Fenster. Ich zog die Rollläden hoch und schaute auf eine lange Reihe grauer Gebäude auf der anderen Straßenseite. Rissige Betonstufen führten zu Eingangstüren mit seitlich angebrachten Briefkästen. Die graue Farbe blätterte in der grellen Herbstsonne ab.
    Sonne. Offenbar hatte Alice im Schlafzimmer dunkel getönte Fensterscheiben. Was ich für frühe Dämmerung gehalten hatte, entpuppte sich als Spätnachmittag.
    Ich legte den Kopf an das kühle Glas und konzentrierte mich auf die grauen Fassaden gegenüber. Etwas Stabiles, Dauerhaftes, Wirkliches. Etwas, auf das ich meine aufgewühlten Gefühle stützenkonnte. Leider half nicht einmal dieser Anblick. Diese Straße, diese Häuser waren mir unbekannt. Eine Welle der Panik durchflutete mich. Ich kämpfte sie sofort nieder, hasste meine Feigheit. Nach allem, was ich durchgestanden hatte, sollte ich mich von so etwas kleinkriegen lassen? Von einer bescheuerten Adresse?
    Nein. Komm wieder runter! Ich holte tief Atem, versuchte, Ordnung in meine Gedanken zu bringen. Auf der Anti-Pilz- Creme war der Aufkleber einer Apotheke, die Adresse lag in Boarhurst. Das waren nicht die Fiats, das Viertel, in dem ich wohnte, aber Boarhurst kannte ich. Früher ein eigenständiger kleiner Ort, war es von Boston eingemeindet worden. Nun bemühte es sich, seine Identität im Vergleich zu den vielen anderen Vierteln zu wahren. Meine zahlreichen unternehmerischen Aktivitäten hatten mich einige Male per Zug nach Boarhurst geführt. Ich kannte die Gegend nicht gerade wie meine Westentasche, aber doch gut genug, um mich einigermaßen zurechtzufinden.
    Ich ließ die Jalousien runterrauschen, und das Zimmer hüllte sich wieder in Dunkelheit.
    Da ich jetzt zumindest wusste, wo ich war, hatte ich mich ein wenig beruhigt und versuchte nun, den Rest der Teilchen zusammenzusetzen. Ich war gestorben. So viel war klar. Und ich war zurückgekommen. Auch das war offensichtlich.
    Was ich nicht verstand, war: Warum?
    »Weil du es bist«, sagte eine Stimme. »Du bist die Frau, die die Dämonen davon abhalten kann, die Pforte zu öffnen. Die dafür sorgen kann, dass sie geschlossen bleibt.«
    Ich wirbelte herum, das Herz schlug mir bis zum Hals. Vor mir stand der geheimnisvolle Froschmann, ein Bier in der Hand, den Filzhut tief ins Gesicht gezogen.
    »Raus hier, verdammt noch mal!«, schrie ich und drückte mich mit dem Rücken an die Wand. Meine Angst war so groß, dass ich dachte, sie würde mir aus den Fingerkuppen spritzen.
    »Na, na, na!« Er hob die Arme als Zeichen des Friedens. »Ich weiß ja, dass du dich fürchtest, aber jetzt übertreib mal nicht. Ich habe mir den Rücken verrenkt, als ich dich von der Limousine hier ins Apartment geschleppt habe. Und dann musste ich Stunden über Stunden die Langeweile ertragen, während du ohnmächtig im Bad gelegen hast. Jetzt, wo du endlich wieder unter den Lebenden weilst, da werde ich wohl kaum abhauen.« Er trat auf mich zu. Ich spannte alle Muskeln an und war bereit anzugreifen oder abzuhauen, falls eins von beiden notwendig werden sollte. »Also bitte, Kindchen! Das kränkt mich jetzt. Ich bin doch nicht hier, um dir wehzutun. Ich bin hier, um dir zu helfen.«
    »Du kannst mich mal.« Ich schleuderte ihm meinen bösesten Blick entgegen. Die Wirkung wu rde allerdings durch den Hello-Kitty- Pyjama leicht beeinträchtigt. »Und jetzt mach dich vom Acker, bevor

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