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Erwachen

Erwachen

Titel: Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Kenner
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sich fast zu einem krampfartigen Zucken. Am Oberteil prangte unübersehbar ein roter Fleck. Mein Mund war trocken. Oh Gott, oh Gott, oh Gott!
    Rasch drehte ich mich wieder zum Spiegel und streifte mir das T-Shirt über den Kopf. Wie schon der Bauch war auch mein Busen - genauer gesagt: dieser Busen - ohne jeden Kratzer. Zu sehen war lediglich eine kleine Tätowierung auf der linken Brust. Als ich genauer hinschaute, erkannte ich, dass die Tätowierung ein kleiner Dolch war. Nicht gerade das, was ich von einer Frau erwartet hätte, die Hello-Kitty-Schlafanzüge trug und offenbar auf Schaumbäder stand, aber kaum eine Schandtat.
    Tatsächlich zeigte der ganze Körper nicht eine Spur von Gewaltanwendung. Ganz bestimmt nichts, das darauf schließen ließ, dass die Frau erst kürzlich mit einem Messer oder Dolch angegriffen worden wäre. Aber wie war das möglich? Sie war von oben bis unten mit Blut bedeckt gewesen. Beziehungsweise ich. Ein Opferlamm, das man an eine kalte Steinplatte gefesselt hatte. Ein Festbraten für ein Ungeheuer.
    Da musste doch ein Schnitt sein! Ein Stich. Irgendwas.
    Aber da war nichts. Nur meine Erinnerungen, und die waren voller Lücken und verblassten zusehends.
    Ich ließ mich auf die Knie sinken, lehnte die Stirn an die kühlen Fliesen und umklammerte das Opfergewand. Ich bemühte mich verzweifelt, mich zu erinnern, meine Gedanken zu ordnen. Und wenigstens einen Hauch von Normalität in eine vollkommen unnormale Situation zu bringen.
    Meine Erinnerungen. Mein Leben. Mein ganz persönlicher Albtraum.
    Lucas Johnson. Rose. Das Entsetzen in ihren Augen. Meine Wut. Mein Versprechen, sie zu beschützen.
    Sein spöttisches Knurren, bevor ich den Abzug drückte, um ihn ins Jenseits zu schicken. Und das eisige Glitzern des Stahls, bevor er mir das Messer tief in den Leib stieß. Die schreckliche Gewissheit, dass ich im Sterben lag, während er, trotz all meiner Bemühungen, am Leben blieb.
    Etwas Neues drängte sich in mein Gedächtnis - das Gefühl zu fallen, das Schlagen von Flügeln, die gegen die abgestandene Luft ankämpften, ein strahlend helles Licht, das mich zugleich wärmte und blendete. Eine sanfte Stimme stieg aus diesem Licht empor. Eine Stimme, die zu einem wunderschönen Gesicht und zarten Flügeln gehörte. Ein Engel. Er bot mir an, mich am Leben zu lassen, mich den leckenden Flammen der Hölle zu entreißen.
    Er bot mir eine Zukunft und eine Gelegenheit, meine zahlreichen Sünden zu sühnen. Lüge, Diebstahl, Drogenmissbrauch.
    Ach ja - und ein vorsätzlicher Mordversuch.
    So ganz verstand ich zu diesem Zeitpunkt nicht, welche Vereinbarung ich getroffen hatte. Aber ich entschied mich für das einzig Mögliche.
    Ich entschied mich für das Leben. Doch als ich mich wieder erhob und erneut das Gesicht im Spiegel betrachtete, musste ich zugeben, dass das nicht unbedingt dem entsprach, was ich erwartet hatte

3
     
    Der Name meines Körpers lautete Alice Elaine Purdue. Wie passend, dachte ich. Denn ich war definitiv im Wunderland gelandet.
    Dieses interessante Bröckchen Information hatte ich auf die altmodische Weise herausbekommen. Ich hatte herumgeschnüffelt und das Medizinschränkchen durchwühlt, bis ich etwas fand, auf das der Name meines Körpers aufgedruckt war. Keine schlechte Idee, wie sich herausstellte, denn Alice war nicht nur stolze Besitzerin der Anti-Baby-Pille, sondern auch einer verschreibungspflichtigen Creme gegen Fußpilz.
    Ich verzog das Gesicht. Aus dem strammen Zustand von Alice’ Arsch und dem Pilzbesatz an ihren Füßen schloss ich, dass wir regelmäßig ein Fitnessstudio besuchten, wo wir dann auch die öffentlichen Duschen benutzten, und zwar ohne Gummilatschen.
    Finster schaute ich zu den Zehen runter, die Gott sei Dank nicht juckten. Dann hielt ich die Zeit für gekommen, das Bad zu verlassen. Praktischerweise führte die Tür in ein Schlafzimmer, das nur von einer Nachttischlampe erhellt wurde. Der Baum war spärlich eingerichtet, wirkte aber bewohnt. Neben dem Bett lagen achtlos hingeworfen zwei Taschenbücher auf dem Boden, beides Bomane von Jane Austen. In der Nähe des Spiegels über der Anrichte klebte ein Haken, an dem verschiedene pastellfarbene Halsketten hingen. Eine zusammengeknüllte rosafarbene Lederjacke hing halb aus dem Schrank.
    Neben der Nachttischlampe stand ein kleines Foto in einem billigen, einfachen R ahmen: eine riesige schwarze Katze, die sich auf der R ückenlehne eines Sofas räkelte, zwei junge Frauen, die sich von hinten an sie

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