Erzähl es niemandem!: Die Liebesgeschichte meiner Eltern (German Edition)
lange nichts voneinander gehört. Als ich ihm in meinem
letzten Brief von Helmut erzählt habe, bekam ich von ihm keine Antwort mehr.«
Annie scheint jetzt wirklich wütend geworden zu sein. Sie hat den
Topf zurück auf das Feuer geschoben und rührt nun mit dem Kochlöffel darin
herum. »Ich kann Tore nur zu gut verstehen, Lillian. Er hat gegen die Deutschen
gekämpft, und du schreibst ihm allen Ernstes, dass du dich mit einem Wehrmachtsoldaten
eingelassen hast. Mein Gott, Lillian, was ist denn bloß in dich gefahren?«
Annie rührt heftig in dem Topf. Warum musste ihr Mann damals nur diese
Deutschen auf die Hütte einladen.
Lillian ist froh, dass sie ihrer Mutter endlich die Wahrheit gesagt
hat, aber sie weiß jetzt auch, dass ihre Eltern Helmut nie akzeptieren werden.
Wenn ich ihnen nur erzählen könnte, was wirklich mit Helmut ist! Und
dass er solche Angst um seine Mutter hat, denkt Lillian verzweifelt, dann
würden sie mich verstehen und ihn mit anderen Augen sehen.
Aber sie hat Helmut ihr Versprechen gegeben. Und sie wird es halten,
um jeden Preis.
Lillian ist zum ersten Mal in ihrem Leben in einen
Konflikt mit ihren Eltern geraten, und das macht ihr das Herz schwer. Sie liebt
ihre Eltern und möchte ihnen keinen Kummer machen, aber sie wird sich nicht von
Helmut trennen. Wenn er doch nur wieder bei ihr wäre! Helmut ist schon seit
fast drei Wochen mit seiner Kompanie weiter im Norden, und es sieht ganz danach
aus, dass seine Abwesenheit noch länger dauern wird.
Als sie an einem Mittwoch Anfang September zur Post geht, ist er
endlich da. Der Brief ohne Absender, postlagernd. Genau wie sie es vorher
abgesprochen hatten. Sie streicht zärtlich über den Umschlag, läuft dann
schnell nach Hause und öffnet ihn erst in ihrem Zimmer:
Meine liebe Lillian, jeden Tag habe ich versucht, ein bißchen
Zeit für mich zu finden, aber es war fast unmöglich. Endlich kann ich diese
Zeilen schreiben. Du bist so oft in meinen Gedanken, und ich habe so ein
starkes Gefühl für Dich. Es ist schwer für mich, daß ich Dich in keiner Weise
beschützen kann. Durch mich trägst Du nun eine schwere Last auf Deinen jungen
Schultern. Hast Du genug Kraft dafür? Ich plage mich mit dem Gedanken an Deine
Zukunft. Ist es richtig, daß Du dich an mich bindest? Du bist in einem
behüteten Elternhaus aufgewachsen, und jetzt nimmst Du Anteil an meiner Lebensgeschichte.
Ich frage mich, ob es richtig war, daß ich Dir alles erzählt habe? Aber
gleichzeitig weiß ich, daß Du der einzige Mensch bist, dem ich mich anvertrauen
kann. Deine Reaktion auf all das ist für mich wie eine »Wundermedizin« nach all
den Diskriminierungen. Verdiene ich Dich, Lillian? Das Schicksal hat es
vielleicht doch gut mit mir gemeint. Ich weiß nicht, wann wir
zurückkommen, ich sehne mich nach Dir, heute und immer. Dein ferner Helmut.
Wie gut ihr diese Worte tun. »Meine Treue zu dir kann keine
Macht der Welt zerstören«, sagt Lillian leise und drückt den Brief an ihre
Wange.
Der Schlachthof in Düsseldorf-Derendorf
Oktober 2010
Welche Bedeutung Stadt- und Ortsnamen doch bekommen, wenn
ein Schicksal damit verknüpft ist. Vor allem, wenn es das unsere ist. Oder das
unserer Lieben.
Mir geht es so mit Düsseldorf-Derendorf. Denn dorthin ist meine
Großtante Henriette Callmann im Juli 1942 verschleppt worden. Und im September
1944 auch meine Großmutter Carola Crott.
Als ich nach Derendorf suche, finde ich im Internet einen Bericht,
der mit Ilse Kassel-Müller unterzeichnet ist:
Im Herbst 1941 begannen von Düsseldorf-Derendorf aus Transporte
jüdischer Menschen in Konzentrations- und Vernichtungslager. Meine Mutter Else
Müller geb. Coppel, meine Schwester Lore Gabelin geb. Müller, mein Schwager
Werner Gabelin und ich, Ilse Müller, damals ganze neunzehn Jahre alt, zählten
zu den Betroffenen. Am Sonntag, den 17. September 1944 klingelte es am
Vormittag an unserer Wohnungstür, und zwei Polizeibeamte forderten meine Mutter
und mich auf, ein paar Sachen zu packen und mitzukommen. Natürlich begleitete
mein Vater uns, und die beiden Beamten gingen mit aufgesetztem Seitengewehr
hinter uns her. Ich kam mir vor wie ein Schwerverbrecher. Die Beamten brachten
uns dann mit der Straßenbahn nach Krefeld und lieferten uns am Hansahaus ab.
Dort wurde mittlerweile fast der ganze Rest der Juden, die noch in Krefeld
lebten, versammelt. Es kam, zu unserem Entsetzen, auch meine im sechsten
Monat schwangere Schwester Lore mit ihrem Mann Werner. Am
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