Was Pflanzen wissen
Was eine Pflanze sieht
… obgleich an der Wurzel befestigt,
Dreht sie nach Sol sich herum und behält,
auch verwandelt, die Liebe.
Ovid, Metamorphosen
Halten Sie sich einmal vor Augen: Pflanzen sehen Sie.
Pflanzen überwachen ständig ihre sichtbare Umgebung. Sie sehen es, wenn Sie in ihre Nähe kommen, und wissen, wann Sie sich über sie beugen. Sie wissen sogar, ob Sie ein blaues oder ein rotes Hemd anhaben. Sie nehmen wahr, ob Sie Ihr Haus frisch gestrichen oder die Blumentöpfe von einer Seite des Wohnzimmers auf die andere gestellt haben.
Natürlich »sehen« Pflanzen nicht in Bildern, so wie Sie oder ich. Pflanzen können nicht zwischen einem Mann mittleren Alters mit einer Brille und sich lichtendem Haar und einem lächelnden kleinen Mädchen mit braunen Locken unterscheiden. Aber sie nehmen auf vielfältige Weise Licht wahr – und auch solche Farben, die wir uns nicht einmal vorstellen können. So »sehen« Pflanzen ultraviolettes Licht, das uns Sonnenbrände beschert, und auch Infrarotlicht, das uns durchwärmt. Pflanzen erfassen, ob es sehr wenig Licht gibt, wie etwa von einer Kerze, ob es gerade Mittag ist und ob die Sonne demnächst hinter dem Horizont verschwindet. Pflanzen wissen, ob das Licht von links, rechts oder oben kommt. Sie wissen, ob eine andere Pflanze über ihnen gewachsen ist und ihnen Licht wegnimmt. Und sie wissen, wie lange das Licht geleuchtet hat.
Kann man das alles nun als »Sehfähigkeit der Pflanze« bezeichnen? Überlegen wir zunächst einmal, was Sehen für uns ist. Stellen Sie sich jemanden vor, der blind geboren ist und seither in völliger Dunkelheit lebt. Nun erhält diese Person die Fähigkeit, zwischen Hell und Dunkel zu unterscheiden. Dann könnte sie zwischen Tag und Nacht, drinnen und draußen differenzieren. Diese neue Wahrnehmungsmöglichkeit würde ganz neue Funktionsebenen eröffnen und wäre sicherlich als rudimentäres Sehen einzustufen. Könnte dieselbe Person jetzt zusätzlich auch noch Farben erkennen, beispielsweise »oben Blau« und »unten Grün«, wäre das eine beträchtliche Verbesserung gegenüber einem Leben in Dunkelheit oder der Fähigkeit, nur Weiß oder Grau erkennen zu können. Eine solche fundamentale Veränderung – von völliger Blindheit zum Farbensehen – wäre für diese Person definitiv »Sehfähigkeit«.
Das amerikanische Wörterbuch Merriam-Webster’s definiert »Sehen« als »den körperlichen Sinn, mit dem vom Auge empfangene Lichtreize vom Gehirn interpretiert sowie zu einer Repräsentation der Position, Form, Helligkeit und normalerweise auch Farbe von Objekten im Raum zusammengesetzt werden.« 5 Wir sehen Licht nur in dem Bereich, den wir als »sichtbares Spektrum« oder »Lichtspektrum« bezeichnen. »Licht« ist dabei ein umgangssprachliches Synonym für die elektromagnetischen Wellen im sichtbaren Spektrum. Das heißt, Licht hat Eigenschaften, die es auch mit allen anderen Arten von elektrischen Signalen wie Mikro- oder Radiowellen teilt. Radiowellen für Rundfunksendungen mit Amplitudenmodulation haben sehr große Wellenlängen, beinahe 800 Meter lang. Aus diesem Grund sind Radioantennen viele Stockwerke hoch. Im Gegensatz dazu sind Röntgenstrahlen extrem kurzwellig, eine Billion Mal kürzer als Radiowellen, deshalb durchdringen sie unseren Körper so leicht.
Lichtwellen liegen in einem schmalen Wellenlängenbereich dazwischen, ihre Wellenlängen reichen von 400 bis 700 Nanometer (milliardstel Meter). Blaues Licht ist am kurzwelligsten, rotes am langwelligsten, Grün, Gelb und Orange liegen dazwischen – genau in der Reihenfolge der Farbstreifen von Regenbögen. Diese elektromagnetischen Wellen »sehen« wir, weil unsere Augen mit speziellen lichtempfindlichen Proteinen und Sinneszellen namens Photorezeptoren ausgestattet sind, die diese Wellen empfangen und absorbieren können, gerade so wie Antennen Radiowellen absorbieren.
Die Netzhaut, die lichtempfindliche Schicht an der hinteren Innenseite unseres Auges, ist mit vielen Reihen dieser Rezeptoren bedeckt, so ähnlich wie es in Flachbildschirmen zahlreiche Reihen von LEDs oder in Digitalkameras Sensoren gibt. Jede Stelle der Netzhaut ist mit Photorezeptoren übersät: Die sogenannten »Stäbchen« sind für jegliches Licht empfindlich und daher für das Hell-Dunkel-Sehen zuständig; die unterschiedlichen Typen der »Zapfen« hingegen reagieren auf verschiedene Wellenlängen des Lichts. Die menschliche Netzhaut hat etwa 125 Millionen Stäbchen und 6 Millionen
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