Erzähl es niemandem!: Die Liebesgeschichte meiner Eltern (German Edition)
Helmut verabschiedet, können beide kaum sprechen.
Schließlich sagt sie: »Ich werde immer auf dich warten, und wenn es 50 Jahre
dauert.«
Wie war das, Mutter?
Juni 2011
Sonntag, den 26. Juni. Ich bin in der Wohnung meiner Mutter.
Vor uns, auf ihrem Esszimmertisch, liegen Briefe. Hunderte von Briefen. Es sind
die Briefe, die sich meine Mutter und mein Vater in den Jahren zwischen 1945
und 1947 geschrieben haben. Jeden Tag einen Brief. Einige konnten sofort
abgeschickt werden, andere mussten darauf warten, bis es wieder eine Adresse
gab, an der sie auch ankommen konnten.
Als sie aus Heistadmoen zurück in das Haus von Frau Vikestad kommt,
sollte es für meine Mutter eine traumatische Begegnung geben, die bis heute
nachwirkt:
»Es brannte noch Licht im Haus an dem Abend, und dann stand sie wie
eine Furie vor mir.« Meine Mutter kämpft auch jetzt noch, 65 Jahre später, mit
den Tränen.
»Frau Vikestad schrie mich an: Du warst nicht bei deinem Bruder! Du
warst im Gefangenenlager bei deinem deutschen Freund! Schämst du dich nicht?
Ich schäme mich, dass ich so was wie dich hier im Haus gehabt habe. Du bist das
Letzte! Du hast mich hintergangen! Verlass sofort mein Haus!«
Der Postbote hatte meine Mutter verraten. Er hatte sich gewundert,
dass sie so viele Briefe aus Kongsberg bekam, die aber an Livs Adresse
gerichtet waren. Ihm war eingefallen, dass das Kriegsgefangenenlager
Heistadmoen in der Nähe von Kongsberg lag, und da hatte er einfach mal einen
der Briefe an dieses hübsche Fräulein Berthung geöffnet.
Meine Mutter ist immer noch verbittert über den Hass von Frau
Vikestad. Sie hatten sich doch die ganze Zeit so gut verstanden! Meinen zaghaft
vorgetragenen Einwand, man könne doch die Wut der Frau irgendwie begreifen,
will meine Mutter auch heute nicht gelten lassen: »Sie hat mich nicht mehr als
einen Menschen gesehen, das ist immer falsch.«
Durch Vermittlung ihrer Freundin Blanche, die inzwischen eine
Ausbildung zur Krankenschwester macht, bekommt meine Mutter im September 1945
eine Stelle im Krankenhaus in Tønsberg, 70 Kilometer südlich von Oslo. Meine
Mutter verzieht wieder das Gesicht. »Oberschwester Kitty schaute mich bei der
Einstellung ganz streng an: ›Jetzt kommt das Wichtigste für mich: Fräulein
Berthung, haben Sie während der Okkupation nationale Haltung gezeigt?‹« Bevor
sie antworten kann, hört sie neben sich die Stimme von Blanche: »Ja, das hat
sie.«
Dass Fremde wieder Briefe von Helmut öffnen, muss meine Mutter nicht
mehr befürchten, denn es kommen keine Briefe mehr. Helmut ist inzwischen aus
dem Kriegsgefangenenlager entlassen worden und nach Deutschland zurückgekehrt. Und
zwischen Deutschland und Norwegen gibt es keinen Postverkehr mehr.
Hilde, eine Freundin aus Harstad, meint: »Vergiss den Helmut. Der
ist bestimmt verhungert oder er hat eine andere.«
Die Finger meiner Mutter gleiten über die vielen Briefe. »Ich war
oft sehr verzweifelt in diesen Monaten. Ich durfte mit niemandem über meinen
deutschen Freund reden, ich habe nur Hass und Ablehnung erfahren. Und von
meinen Eltern habe ich weiterhin nichts gehört.« Hat sie ihnen denn nichts von
Helmuts tatsächlichen Lebensumständen, von der jüdischen Abstammung, der
verschleppten Mutter, der verschleppten Tante geschrieben? »Doch, das habe
ich«, sagt meine Mutter, »später aber habe ich erfahren, dass alle meine Briefe
ungeöffnet in der Nachttischschublade meines Vaters lagen.«
Ich schaue meine Mutter an und merke, wie sehr ihr die letzten
Monate zugesetzt haben. Es muss mehr als anstrengend für sie gewesen sein,
jenes Eintauchen in die Vergangenheit, weil dabei immer wieder eine große Nähe
zu ihrem Mann heraufbeschworen worden ist. Aber der, um den es geht, ist nicht mehr
da. Ihre Augen sehen so müde aus, so traurig. Sie will jedoch ihre Geschichte
zu Ende erzählen.
Die Geschichte, die an jenem Vormittag im März 1946 weitergeht, als
Blanche aufgeregt in das Haus von Frau Mikkelsen – Lillian arbeitet seit einiger
Zeit bei der Lehrersfrau – gelaufen kommt.
»Im Krankenhaus ist dieser Brief für dich abgegeben worden, Lillian.
Von der Heilsarmee aus Oslo!« Blanche strahlt. »Vielleicht hat das was mit
Helmut zu tun?«
Lillian zittert, als sie den Umschlag öffnet. Der Stempel sagt, dass
der Brief drei Tage zuvor, am 26. März, in Oslo abgeschickt worden ist. Der
Brief enthält tatsächlich ein Anschreiben der Heilsarmee:
Angenommene Sache Nr. 23350. Für Lillian
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