Erzaehlungen
stellen, und ein solcher Mensch tritt hinein. Mit großer Anteilnahme sprach er auf einmal wieder über die verschiedensten traurigen Vorfälle in seinem Leben, er malte, je mehr sich diese Vorfälle seiner am Ende nur noch grausamen Hilflosigkeit zu nähern schienen, nur graue Bilder. Alles, was er sagte, war von einem gleichmäßig von seinem seltsamen Unglück beherrschten Grau, oder Grauschwarz, oder Schwarzgrau. Seine Stimme war weder leise noch laut, sie gehörte nicht eigentlich ihm, sondern war aus seinen Zuständen und Zusammenhängen; es ließe sich höchstens ein solcher Urvergleich ziehen wie in Betrachtung eines noch nicht und schon nicht mehr lebenden, aber doch existierenden Wesens, das doch kein bloßer Gegenstand ist. Er machte das Gesprochene in der eng zusammengezogenen späten, plötzlich völligen Nachmittagsstilleder Kanzlei, vor allem, weil es schon beinahe finster war, ungemein anschaulich. Ich hatte an diesem Nachmittag, das ist außergewöhnlich, und auch an dem darauffolgenden Abend, keine meiner sonst so dringenden Arbeiten zu erledigen, und ich war froh, das Haus nicht mehr verlassen zu müssen, und so überließ ich es Winkler, fortzugehen oder zu bleiben. Es schien mir einen Augenblick lang, als hätte er sich bei mir nur aufwärmen wollen. Seine Schwester war gewiß längst wieder in Vöklabruck. Ich dachte: die Kinderlosigkeit zweier wie der beiden Winklerschen Menschen, wodurch sie auch immer in jedem von ihnen beiden ein nicht mehr rückgängig zu machender Dauerzustand geworden ist, kann hinaufführen, in die höchsten und in die schwindelerregendsten Höhen führen und in die grauenerregende Ohnmacht hinunter. – Ich fragte ihn, ob er schon ein Nachtmahl gegessen habe, die Leute auf dem oberösterreichischen Land essen immer schon früh ihr Nachtmahl, obgleich ich ja schon gewußt habe, daß sein Magen leer gewesen ist, auch zu Mittag hatte er sicher nichts gegessen, denn da waren Bruder und Schwester mit dem Postomnibus von Vöklabruck in die Stadt Ischl hereingehetzt; auch das ein Grund seiner Müdigkeit. Er lehnte es ab, mit mir etwas, »etwas Warmes«, hatte ich gesagt, das in der an die Kanzlei angeschlossenen Küche zu finden gewesen wäre, zu essen. Auch zu trinken wollte er nichts. Im Grunde beherrschte mich dieser Mensch, der mir einerseits so fremd war wie keiner, andererseits alles andere als fremd. Ein Verbrecher ist zweifellos ein armer Mensch, der für seine Armut bestraft wird. Ich dachte das hoch über der Grenze sogar der höheren Wissenschaftlichkeit. Er könne, meinte er, über die besonders krassen Vorfälle in der Strafanstalt, die er mir ganz bewußt verschweige und die ihn immer wieder beschäftigen, nichts sagen, aus nicht erklärbaren Gründen, auch aus »Kopflosigkeit«. Er fühle alles nur und die Folgen davon seien tödlich. Eine Existenz wie die seine schwäche, das Eingesperrtsein ruiniere im Menschenjedes brauchbare Gefühl für die Außenwelt, es verstopfe die Zugänge zu ihr. Bessern, wie man das immer von ihm verlangt habe, könne einer wie er sich nicht. Er habe keinerlei Besserungs- und Verbesserungsmöglichkeiten mehr, er habe sie nie gehabt. Er wolle sich auch gar nicht verbessern. Was heißt das? Seine Kindheit und seine Jugend seien von der Aussichtslosigkeit verfinstert gewesen, sich jemals bessern oder verbessern zu können. Es hätten ihm eigentlich alle Voraussetzungen für ein Leben, das unauffällig vor sich geht und niemandem weh tut, immer gefehlt. Seiner Anlage nach sei er von vornherein eine einzige finstere Fundgrube für Grausamkeiten und Schmerz gewesen. Eine von Grund auf falsche, weil nicht einmal in Ansätzen vorhandene Erziehung habe seine Anlagen in das Verbrecherische hinein- und hinunterentwickelt. Seine Schmerzen, schon die allerfrühesten, seien mit Gefühllosigkeit behandelt worden, die Eltern hätten ihn, anstatt in Leintücher, in ihre leibliche und seelische Kälte gewickelt. Nur mit seinen Körperkräften konnte er eines Tages, sie waren ihm ganz plötzlich bewußt geworden, seiner familiären Unterdrücker Herr werden: er schlug, wenn man ihn reizte, einfach zu. Diese für ihn einzige Methode, sich über Wasser zu halten, sich Gehör, ja sogar Respekt zu verschaffen, führte ihn schon nach kurzer Zeit in die Gefängnisse. Das Eingesperrtsein, sagte er, vergrößere Furcht und Überdruß. Es gäbe heute eine hochentwickelte Justiz, aber keinerlei Fortschritt in der Justiz. Der moderne Strafvollzug habe seine
Weitere Kostenlose Bücher