Erzaehlungen
Augenblick an schon stützen sollte, später dann tragen, noch höher heben, alle zusammen, Eltern und Schwestern noch höher hinauf- heben, als sie schon oben waren; und bekommen haben sie, von woher, war ihnen unheimlich, weil letzten Endes doch vom Vater aus der Mutter heraus, ein Geschöpf, das, von ihnen aus gesehen, so ein nutzloses, immer noch tiefer und tiefer denkendes Tier gewesen ist, das Anspruch auch noch auf Kleidung und auf Vergnügen erhob und das man, anstatt daß es einen stützt, stützen mußte, anstatt daß es einen nährt, nähren mußte und das man hätte verhätscheln sollen und nicht verhätschelte; im Gegenteil, Georg war und blieb ihnen ein aus lauter Nutzlosigkeit ständig im Weg und im Magen liegender Fleischklumpen, der auch noch Gedichte schrieb. Alles an ihm war anders; sie empfanden ihn als die größte Schande ihrer sonst nur aus Wirklichkeit und nicht im geringsten aus Einbildung zusammengesetzten Familie. Er sprach in dem Wiener Zirkusgassenzimmer, das wir, nachdem wir uns in einem Gasthaus in der Leopoldstadt getroffen und zusammengetan hatten, gemietet hatten, oft und oft von seinem »Kinderkerker zu Innsbruck«, und er zuckte, wenn er das für ihn immer schwierige Hauptwort »Ochsenziemerhieb« glaubte sagen zu müssen, vor seinem Zuhörer, vor mir, der ich jahrelang, acht Semester lang, sein einziger Zuhörer gewesen bin. Ihm viel zu große, ihm viel zu riesige Keller- und Vorhaus- und Stockgewölbe, ihmviel zu hohe Steinstufen, zu schwere Falltüren, zu weite Röcke und Hosen und Hemden (seines Vaters abgetragene Röcke und Hosen und Hemden), zu schrille Vaterpfiffe, Mutterschreie, das Kichern der Schwestern, Sprünge von Ratten, Hundsgekläff, Kälte und Hunger, bornierte Einsamkeit, ihm viel zu schwere Schultaschen, Brotlaibe, Kukuruzsäcke, Mehlsäcke, Zuckersäcke, Kartoffelsäcke, Schaufeln und stählerne Radelböcke, unverständliche Anordnungen, Aufgaben, Drohungen und Befehle, Strafen und Züchtigungen, Hiebe und Schläge bildeten seine Kindheit. Er war, nachdem er schon jahrelang von zu Hause fort gewesen war, noch immer gepeinigt von den von ihm in den Keller hinunter und wieder aus dem Keller heraufgeschleppten (und von ihm unter was für Schmerzen geschleppten) geselchten Schweinehälften. Nach Jahren noch und in siebenhundert Kilometern Entfernung, in Wien, überquerte er, wenn es finster war, immer noch ängstlich und mit eingezogenem Kopf den elterlichen Innsbrucker Kaufmannshof, stieg er, von Fieber geschüttelt, in den elterlichen Innsbrucker Kaufmannskeller. Wenn er sich, tagtäglich in das elterliche Kaufmannsrechnen hineingeohrfeigt, verrechnete, wurde er (noch nicht sechsjährig das erste Mal) vom Vater oder von der Mutter oder von einer seiner Schwestern in das Kellergewölbe hinuntergesperrt und dann eine Zeitlang immer nur noch »Verbrecher« gerufen; zuerst hatte ihn nur sein Vater einen Verbrecher gerufen, später aber stimmten, wie er sich erinnerte, auch seine Schwestern, dann gar seine Mutter in den »Verbrecher«-Ruf ein. Völlig »erziehungsunfähig« habe sie, die er jetzt, nach Jahren, weil er durch viele Gebirge von ihr getrennt war, in seiner Wiener Studienzeit in einem milderen Lichte zu sehen sich einbildete, sich immer gänzlich, was Georg betraf, dem stärkeren Teil der Familie, also dem Vater und den Schwestern, gefügt. Vater und Mutter hatten ihn mit einer entsetzlichen Regelmäßigkeit wöchentlich mehrere Male mit dem Ochsenziemer geschlagen.
In den Innsbrucker Kaufmannshäusern heulten in seiner Kindheit, wie in den Innsbrucker Metzgerhäusern die Schweine, die Söhne. Bei ihm war wohl alles am schlimmsten gewesen. Seine Geburt, so versicherten sie ihm bei jeder Gelegenheit, habe ihren Ruin herbeigeführt. Vom Vater war er ständig als »verfassungswidrig« bezeichnet worden, mit dem Wort »verfassungswidrig« stach sein Vater immerfort auf ihn ein. Die Schwestern nützten ihn für ihre Intrigen aus, mit ihrer Verstandesschärfung mit einer immer noch größeren Perfektion. Er war aller Opfer. Wenn ich in seine Kindheit und in sein Innsbruck hineinschaute, schaute ich in meine Kindheit und in mein Innsbruck hinein, mit wieviel Erschrecken gleichzeitig in das meinige, das nicht von derselben Fürchterlichkeit, aber von einer noch viel größeren Infamie beherrscht gewesen war, denn meine Eltern handelten nicht aus der tierischen, wie die Seinigen, sondern aus der radikal philosophischen, aus der vom Kopfe und von nichts als vom
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