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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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untergebracht gewesen war. Bei solcher Gelegenheit werden oft Entlassungen, die gar nicht geplant gewesen waren, überraschend schnell durchgeführt. Ich ersuchte Winkler, der jetzt einen besonders niedergeschlagenen Eindruck machte, auf seine, mir ausgesprochen kränklich erscheinende Schwester Rücksicht zu nehmen. Sie sei in dem Glauben, er kehre jetzt, nach dieser Unterredung mit mir, zu ihr zurück. Das dürfe er nicht. Davor fürchte sie sich. In Anbetracht des schon weit überbeanspruchten Verhältnisses zwischen ihnen beiden hielte ich es für besser, er bleibe in Ischl. An seinem entsetzlichen, ihm auswegslos erscheinenden Zustand sei auch das Wetter schuld, sagte ich, der naßkalte, finstere Tag. Anstrengungen, Opfer blieben ihm naturgemäß, gleichgültig, was er jetzt unternehmen werde, nicht erspart. Sein Verbrechen sei als eines von Hunderten und Tausenden von Jugendverbrechen, meinte ich, verzeihlich. Die ganze Welt eine Welt von Ausgeschlossenen, die Gesellschaft an sich existiere nicht, jeder sei allein, keiner sei im Vorteil. Er hörte sich, was ich sagte, nur scheinbar an. Lange Zeit schaute er auf die Uhr an der Wand, ein Geschenk meiner Schwägerin. Ich verzichte natürlich auf die Verteidigungskostenrückzahlung. Die im Gesetz vorgeschriebene Verteidigungskostenrückzahlung ist eine ungerechtfertigte Härte. Alle Erschwernisse würden ihm aus dem Weg geräumt, darauf könne er sich verlassen. Ich würde mich verschiedenenorts für ihn einsetzen. Er sei nicht allein mit seinen Verbrechen, wiederholte ich, jeder beginge Verbrechen, die größten, aber die meisten Verbrechen blieben unaufgedeckt, unerkannt, unbestraft. Verbrechen seien Krankheitserscheinungen; die Natur bringe unaufhörlich alle möglichen Verbrechen, darunter die Menschenverbrechen, hervor; die Natur verschaffe sich ihre Verbrechen rechtmäßig. Alles sei immer in der Natur und aus der Natur, die Natur sei von Natur aus verbrecherisch. Weil er einen so kläglichen Eindruckmachte, fragte ich ihn, ob er nicht augenblicklich, was doch möglich sei, die Kraft dazu habe, sein Leben zu überschauen, mit der ganzen Welt hinter sich und dann vor sich, zu einem Anschauen seiner doch unerhörten Entwicklung, er fände darin, auch das sei gesetzmäßig in der Natur, nicht nur Finsternisse. Die Welt sei nicht nur entsetzlich. Die Materie ungeheuer exakt und voll Schönheit. Unabhängig von Ort und Zeit sei der Einzelne immerfort zu den erstaunlichsten Entdeckungen, derentwillen das Leben sich auszahlt, fähig. Aber Winkler antwortete nichts, er reagierte auf nichts. Er schien sich mehr und mehr in sich selber, und zwar in eine grauenhafte Vorstellung von sich selber, einzuschließen. Wenn einmal, bemerkte ich, und ich dachte dabei mehr an mich als an ihn, die Spaziergänge, die man macht, nicht mehr in den Wald oder an den Fluß oder in das doch warme und pulsierende Gehäuse einer Stadt oder zu den allgemein Menschlichen und zurück führen, sondern nurmehr noch, wenn auch in den Wald und an den Fluß und in die Stadt und zu den allgemein Menschlichen, in die Finsternis und in nichts als in Finsternis, dann ist man verloren. Es war mir klar, daß Winkler, hätte er Geld genommen, ins Gasthaus gegangen wäre, nicht um zu schlafen ... und er wäre am andern Tag nicht fähig gewesen, sich einem der Zimmerermeister vorzustellen. Wie schwach war der große Mensch, der riesige! Wenn er aufspränge und mich zusammenschlüge! Die Schläger und die Totschläger springen urplötzlich aus ihrer entsetzlichen Schwäche auf. Winkler erinnerte mich an ein Tier, das in mehreren wilden und zahmen Tieren zugleich ist, existiert, in Feindschaft, in der Natur der Feindschaft. Ich hätte mich über seine Kindheit nicht zu informieren brauchen: der Zimmerergehilfenbrief war ihm mehr ein nicht von ihm, sondern von seinen Eltern in höchster Höhe angebrachtes Sprungbrett, um sich davon, von ihm aus, dem für seinesgleichen oft unerreichbaren, in das Abgrundtiefe ja -tiefste fallen zu lassen, gewesen. Ich verzichtete an dem so unerwartet traurig gewordenenAbend darauf, einen Rundgang zu machen, wie das meine Gewohnheit ist. Winkler sagte nichts mehr und blieb bewegungslos mit geschlossenem Mantel; schließlich mit den Händen in seinen Manteltaschen im Sessel sitzen. Sein Kopf war dann, für mich hinter meinen Büchern verborgen, auf seinen Knien. Ich blätterte in den verschiedensten Aktenstücken, während Winkler, eingeschlafen, wie ich feststellte, einen

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