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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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Geruch nicht mehr aus ihrem Zimmer hinausbringen. Vor Müdigkeit habe sie oft nicht mehr stehen können, er veranlaßte sie aber rücksichtslos zu Wegen in verschiedene Gasthäuser um verschiedene Schnäpse. Von dem Augenblick an, in welchem ihr Bruder sich bei ihr niedergelassen hat, habe sie nicht mehr geschlafen. »Seine großen Hände, Herr Doktor!« sagte sie. Das Zusammensein und dann, wenn sie in der Gerberei gewesen war, die Gedanken an ihn seien ihr unheimlich gewesen. Bald habe sie keinen Einfall, wie sie sich von ihrem Bruder wieder befreien könne, mehr gehabt. »Das war schlimm.« In der Strafanstalt habe sich Winkler, ihrer Meinung nach, verschlimmert. Die meiste Angst habe sie vor der Unbeweglichkeit, in welcher er immerfort auf dem Boden »gehockt« war, gehabt. »So ein kräftiger Mensch«, sagte sie. Sie habe »aus Berechnung«, wie sie, was sie sagte, erweiterte, immer wieder ein Gespräch mit ihm anfangen wollen, um sie beide abzulenken, er habe aber niemals ein Wort mehr als unbedingt notwendig gesprochen, selbst das Essen und Trinken und die Kleidungsstücke habe er sich nur mit Handbewegungen, »kurzen, schlagartigen«, von ihr zu sich heranbefohlen. Ihre Ersparnisse seien, weil sie ihm einen Anzug und einen Mantel hat kaufen müssen, Schuhe, Unterhosen (»Ich hab’s nicht ungern getan!«), in ein paar Tagen weggewesen. Plötzlich, es war vielleicht ein halbe Stunde vergangen, sagte sie: »Hoffentlich ist er noch unten!« Sie wollte, das sah ich, ans Fenster, getraute sich aber nicht. Was aus ihrem Bruder, der »so groß und so stumm« sei, werden würde, meinte sie, ohne dann auch nur ein Wort mehr außer »so groß und so stumm« zu sagen. Sie drehte sich um und lief, wie wenn sie sich zum Schluß noch vollständig in ihremMantel hätte verstecken wollen, ins Vorhaus hinunter, mit solch ungeschickten Bewegungen ihrer Beine, die auf ein, dem Geschöpf, das sie tragen müssen, zugestoßenes Unrecht hindeuten. Ich hörte, obwohl ich es hätte hören müssen, weil die Kanzleitür offen gewesen war und immer alles im Vorhaus Gesagte, auch das Leiseste, deutlich in die Kanzlei herauf zu hören ist, was sie im Vorüberlaufen zu Winkler gesagt hatte, nicht mehr, nichts mehr, nur das mich seit Jahren immer gleich und immer abstoßender erschreckende Zufallen der Haustür. Kurz darauf erschien Winkler in meinem Zimmer.
    Er machte denselben kräftigen Eindruck auf mich wie auf seine Schwester. Es fiel mir auf, daß sich sein Gesicht während der langen Haftzeit vergröbert hatte, das Gefährliche in seinen Augen gab mir zu denken. Seine Hände waren unruhig, eine unglaubliche, mich bestürzende Unruhe ging von ihm aus. Zum Teil war er wie ein Kind, zum andern wie ein überfertiger Mensch bei der Tür hereingekommen, so plötzlich aufgetreten, daß ich annehmen mußte, er habe, während ich mich mit seiner Schwester unterhielt, hinter der Tür gehorcht. Aber es war ja nichts, das nicht auch für ihn bestimmt gewesen wäre, zwischen seiner Schwester und mir zur Sprache gekommen. Tatsächlich war ich bei dem Einfall, Winkler habe hinter der Tür gehorcht, sei unbemerkt hinter seiner Schwester ins Haus und durchs Vorhaus herauf, erschrocken; andererseits deutete aber seine Atemlosigkeit auf ein rasches Heraufkommen über die Stiege hin. Er wollte, konnte aber nicht sprechen. Im ganzen schien er froh zu sein, daß seine Schwester vor ihm bei mir gewesen war. Sein Mantel war ihm zu eng, er hatte das Hemd offen; eine krankhafte Einstellung allem und jedem gegenüber hat dieser Mensch, dachte ich. Durch dieselbe Hilflosigkeit wie vor Gericht, ich erinnere mich, daß er hilfloser als statthaft gewesen war, vor allem immer in den entscheidenden Augenblicken, war ich auch jetzt wieder von ihm eingenommen. Zwischen ihm und mir war bestimmtin den Momenten seines Eintretens in die Kanzlei und auch später nicht, die ganze Zeit seines Beimirseins nicht, die geringste Gefühllosigkeit gewesen. Nur waren die Verständigungsmöglichkeiten auf beiden Seiten qualvoll eingeschränkt. Ich hatte mich, während der Unterredung mit seiner Schwester, nicht mehr an seine Erscheinung erinnern können. Er entstammte einem Menschenschlag voll von der gänzlich unbewußten Substanz. Er hatte eines der Gesichter, die man oft sieht, wenn man, selber müde, am Abend in unseren Dörfern durch die stille, zu keinem Aufmucken mehr fähige Müdigkeit von Menschenansammlungen geht, durch die aneinandergeketteten Physiognomien der

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